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Filmreihe

 
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Aufbruch in Europa

Neue Wellen in Ost und West (1959-1968)


Wilde Ideen, demokratische Träume, freie Liebe: Das Aufbruchskino der frühen 1960er-Jahre versprüht Lust auf Neues! Bevor sich die Konturen und Grenzen wieder verschärfen, zeugt das europäische Kino von Erneuerungsdrang und Mut für neue Geschichten und Formen, die europaweit Wellen schlagen: in Italien, Schweden, Polen, der Tschechoslowakei oder der DDR. Ost und West sind hier keine Rivalen, sondern Horizonte, von denen aus junge Menschen auf neu gewonnene Möglichkeiten blicken. Spätere Regielegenden wie Jean-Luc Godard, Roman Polanski oder Agnès Varda erschaffen in jungen Jahren ins Leben drängende Filmerlebnisse. Flirrende Geschichten entführen in die pulsierenden Strassen der Grossstädte, von Paris über Rom, Budapest bis Moskau, locken zum sommerlichen Ausflug aufs Land oder im schicken Sportcabrio ans Meer. Aufstrebende Filmemacher:innen setzen lustvoll Statements für körperliche und sexuelle Selbstbestimmung. Und in ihrem Drang nach Freiheit suchen die Filmheld:innen als Gauner, Streunerinnen und Müssiggängerinnen nach ihrem ganz individuellen Glück. Ein blühendes europäisches Kino, das Lust macht auf die grosse Leinwand!

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Alles erlaubt und nichts unmöglich?

 

Was ist das bloss für ein intensives, atemlos rasantes Jahrzehnt gewesen, diese 1960er-Jahre, in denen die Berliner Mauer gebaut und John F. Kennedy ermordet wurde, der Minirock den Laufsteg eroberte und die Antibabypille die freie Liebe ermöglichte, in denen der erste Mensch auf dem Mond landete und Student:innen weltweit zur Revolution aufriefen? Die Kinder von Marx und Coca-Cola, wie die damals 20-Jährigen von Jean-Luc Godard bezeichnet wurden, wuchsen mit dem Fernseher und einer aufkeimenden Idee von Freiheit auf – auch im Osten. In Budapest und Prag befeuerte der Einfluss der Beatles und der Rolling Stones die heimische Musikkultur: Es schossen Beat-Bands aus dem Boden und liessen die tanzende Jugend hoffen. Nichts schien plötzlich unmöglich, zu Beginn dieses aufregenden Jahrzehnts. Die 1968er-Revolution war noch in weiter Ferne, die Niederschlagung des Prager Frühlings ein absurdes Szenario. Von dieser frühen Aufbruchsstimmung zeugt auch das europäische Kino der Zeit, und zwar unabhängig davon, ob die Geschichten in Berlin oder Prag, in Belgrad, Budapest, Paris oder in Moskau spielen. Ost und West sind hier keine geopolitischen Rivalen. Vielmehr liefern sie die Koordinaten für unterschiedliche Ausgangspunkte und Horizonte, vor denen die Heranwachsenden ihren Sprung ins Ungewisse wagen.

 

Als im Jahr 1968 das Umfrageinstitut Ifop seine Mitarbeiter durch ganz Frankreich schickte und die 15- bis 29-Jährigen mit Fragen zu ihrem Leben, ihren Wünschen und Einstellungen löcherte, antworteten 92% der Befragten, sie würden sich komplett von ihrer Elterngeneration unterscheiden. Auf die Frage, was ihnen wichtig sei, um glücklich zu sein, gaben 84% an, nur auf eigenen Wunsch Kinder haben zu wollen. Danach folgten «Reisen» und «ein eigenes Auto besitzen», noch vor dem Bedürfnis, verheiratet zu sein (39%). Diese gross angelegte Meinungsumfrage wurde 1957 erstmals durchgeführt und bestätigte nun endgültig, was die Journalistin Françoise Giroud bereits damals vorweggenommen hatte: Ein Generationenwechsel war im vollen Gange, den Giroud als Nouvelle Vague, als Neue Welle, innerhalb der französischen Gesellschaft bezeichnete. Bevor der Begriff in die Kinogeschichte einging, beschrieb er einen soziologischen Wandel, der sich durch alle Bevölkerungsschichten zog.

 

Diesen Erneuerungsdrang spürten auch die jungen Filmemacher:innen und setzten ihn seismografisch für die Filmkunst um. So betonte der damals 30-jährige Debütant Jean-Luc Godard, dass in seinem Erstlingsfilm A bout de souffle «alles erlaubt» sein sollte. Während die Impressionist:innen hundert Jahre zuvor die Staffelei hinaus auf die Wiese gezerrt hatten, holte Godard die Kamera hinaus auf die Strasse und die Strasse hinein in den Kinosaal. Seine Bilder springen ums Eck, Zeit und Raum müssen nicht mehr geradlinigen Erzählungen folgen. Mithilfe einer leichten Reportagekamera und der Verwendung von lichtempfindlichem Filmmaterial konnte draussen und mit natürlichem Licht gedreht werden – weg von der ausgeleuchteten Studiokulisse und der Fototapete. Stattdessen führt die Kamera mitten hinein in den lärmenden Strassenverkehr und den Trubel auf den Champs-Élisées. Treibenlassen, nicht stehen bleiben, die Umgebung mit hellwachen Augen beobachten, als wäre es das erste oder gar das letzte Mal. 

 

Auch die Sängerin Cléo (Cléo de 5 à 7), die auf eine Krebsdiagnose wartet, bewegt sich wie halb entrückt durch eine Stadt, die nur eine Richtung kennt: vorwärts. Hier pulsiert und drängt das Leben, während die Zeit für Cléo plötzlich rückwärts zu laufen scheint. Immer wieder wechseln sich fiktionale und dokumentarische Szenen ab. Bis heute wirkt der Eindruck, hautnah in den Pariser Lebensalltag von 1962 einzutauchen und die Abgase und den Asphalt, auf den die Sonne brennt, riechen zu können.

 

Der Mut zum Ungeschliffenen und Rohen, in Form und Erzählweise, schlägt in den frühen 1960er-Jahren ganz sprichwörtlich Wellen, die nach Italien, Schweden, Polen, die Tschechoslowakei, die DDR und darüber hinaus weitergetragen werden. Auch dort beginnen junge Regisseur:innen in ihren frühen Dreissigern, hochsensibel den Wandel an gesellschaftlichen Themen aufzugreifen. Gerade in Osteuropa führt der Modernisierungsprozess dazu, dass subversive, emanzipatorische Impulse innerhalb der Jugendkultur zirkulieren und im Film verarbeitet werden. Dabei scheint das, was die jungen Menschen vor (und hinter) der Kamera bewegt, viel intimer, als es die grossen weltpolitischen Themen dieses rasanten Jahrzehnts vermuten lassen. Mal ist es das schlechte Gewissen, der blinden Mutter die Welt schönzureden (Sonne im Netz), mal ist es die uneingestandene Mutlosigkeit, die hochgesteckten Ziele und Phantasien auszuleben (Billy Liar). Es geht um schüchterne Liebe und ungewollte Schwangerschaft (Kinderwagen) oder den Versuch, die junge Ehe doch noch retten zu können (Jahrgang 45). Der Drang, unabhängig und frei entscheiden zu können, ohne auf Eltern, Vorgesetzte oder den Staat Rücksicht nehmen zu müssen, ist die eigentliche Provokation durch Bela, Billy, Britt und Al, wie die jungen Mittzwanziger in den Filmen heissen.

 

Doch der jugendliche Nonkonformismus stösst nicht überall auf Gegenliebe. In der DDR wird mit erzieherischen Massnahmen dagegen vorgegangen. Jürgen Böttchers erster und zugleich letzter Spielfilm Jahrgang 45 wurde nicht mehr zur staatlichen Abnahme zugelassen, da die Hauptfigur Al als «asozial» und zutiefst un-sozialistisch eingestuft wurde. Dabei steckte der junge Al doch nur in dem Dilemma, dass er im wunderbaren Berlin der Sehnsucht nach dem grossen Abenteuer folgen wollte und zugleich schon den Druck zur Familienplanung spürte. Böttchers Film erlebte seine Kinopremiere erst im Oktober 1990. Für die darin porträtierte Jugendgeneration sicherlich ein später Wermutstropfen, um in eine Zeit zurück zu tauchen, in der das Leben noch mehr Fragen als Antworten bereithielt.

 

Ein ähnliches Schicksal widerfuhr Věra Chytilová und ihrem surrealen Film Tausendschönchen – kein Märchen. Marie I und Marie II drehen der Welt darin eine Nase und feiern ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen bis zur Selbstzerstörung: In einer Szene zerschneiden sich die beiden Figuren gegenseitig mit Scheren, bis nur noch bunte Schnipsel von ihnen übrigbleiben. Chytilová setzt der weiblichen Unangepasstheit ein Denkmal und wird dafür in der Tschechoslowakei mit einem siebenjährigen Berufsverbot bestraft. Überhaupt sind die Filmemacherinnen im Aufbruchskino der 1960er-Jahre so wichtig, da ihre behandelten Stoffe stets politischer sind, als sie es zu tun beabsichtigen. Ihre Filme reflektieren die körperliche und sexuelle Selbstbestimmung der modernen Frau ebenso wie das veränderte Männerbild, das nicht mehr zu einfachen Heldengeschichten taugt. In Márta Mészáros’ Debütfilm Das Mädchen springt die junge Erzsi nackt in den See, an den die Dorfbewohner:innen nur die Pferde zur Tränke führen. Ein Tabubruch für ihre Mutter, dem Erzsi nur entgegenhält: «Hier bin ich und ich lebe!»

 

Viele dieser im Film porträtierten Suchenden verbindet das Bewusstsein für den Moment sowie eine grosse, unklare Idee von sich selbst und ihrem Leben. Die Mutigsten unter ihnen sind konsequent: Sie bleiben lieber frei und allein, als zu zweit und einsam (Juliregen). Ohnehin wird sich am Ende des Jahrzehnts das Augenmerk verschieben, fort von der strapaziösen, monogamen Ehe und hin zur freien Liebe. In Rote Sonne wirft sich Uschi Obermaier in das Münchner Nachtleben und bastelt nebenher mit ihren Mitbewohnerinnen an einer Bombe. Tanz und Revolution – sowohl in Ost als auch West wird sich nach 1968 das Bild von Europa verändern, werden sich Konturen und Grenzen wieder verschärfen, die für eine kurze Zeit durchlässig für wilde Ideen und demokratische Träume wurden. Die Filmreihe spürt dieser Aufbruchsstimmung noch einmal nach: diesem unruhigen Puls, der eine ganze Generation erfasste, und einer Bewegung, die bis heute fasziniert.

 

Patricia Pfeifer hat in München und Paris Kunstgeschichte studiert, sich in Prag in den Film verliebt und in Zürich dazu promoviert. Mit Osteuropa, ihrem Forschungsinteresse, verbindet sie Familie, Feiern und fragmentierte Geschichte.

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