
Wes Anderson
Knallbuntes Kingdom
Extravagant, farbenfroh und wunderbar schrullig: Der visuelle Stil von Wes Anderson ist unverwechselbar. Akkurat bis ins letzte Detail, dennoch verspielt und voller Leichtigkeit. Eine so verzaubernde Ästhetik, dass sich auf Social Media alle im «Anderson-Stil» vom Alltag in seine Fantasiewelt träumen. Dabei sind die Filme weit mehr als symmetrische Oberfläche: Die Geschichten kommen scharfzüngig und humorvoll daher, erzählen bei genauem Hinsehen von familiären Verwerfungen, menschlicher (und tierischer) Sinnsuche. Die kauzigen Figuren, stets verkörpert von einem Ensemble der grössten Hollywoodstars, infantile Erwachsene und altkluge Kinder, sind nur auf den ersten Blick wunderlich. Sie verbindet eine nostalgische, zutiefst menschliche Sehnsucht: nach der Kindheit mit all ihren Abenteuern. Oder einer besseren, utopischen Welt voller Wunder. Mit Wes Anderson ins knallbunte Kingdom, mit visueller Leichtigkeit und erzählerischem Tiefgang.
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Extravaganz in Formvollendung: In der Werkstatt des Filmemachers Wes Anderson entstehen retrofuturistische Tragikomödien – bildgewaltige und pointensichere Unikate.
Die Frage, warum man auf die – inzwischen fast zu Tode parodierte – aphoristische Ästhetik des Filmemachers Wes Anderson noch immer nicht genervt reagiert, ist leicht zu beantworten. Einerseits erscheint die Hingebung, mit der er seine Farbakzente und Bildkompositionen, seine Dialogpossen und Retro-Soundtracks wählt, augenblicklich nachvollziehbar – hinter den Manierismen seines Stils gibt sich eine genuine Liebe zu abwegigen Looks und Leuten (und zu regelwidrigen Erzählweisen) zu erkennen. Andererseits wird die Methode Anderson mit jedem Film raffinierter, setzt sich immer noch feiner ziseliert, noch wahnwitziger gedrechselt in Szene. Die rückhaltlose Kinokünstlichkeit ist dem Auteur aus Houston zur zweiten Natur geworden.
Die visuelle Prägnanz des Anderson-Kosmos hat jedoch online, unter grosszügiger Verwendung der aktuellen Möglichkeiten künstlicher Intelligenz, zu zahllosen Trittbrettfahrten und Nachahmungstaten geführt. YouTuber stellen Trailer ins Netz, die auf fiktive andersonifizierte Filmklassiker-Remakes (von Star Wars (1977) und The Shining (1980) bis The Lord of the Rings (2001)) hinweisen. Auf TikTok schnüren heiter gestimmte Influencer ihre Alltagsbeobachtungen reihenweise in das einzigartige Formenkorsett. Sogar lokale Politgrössen lassen ihre Propagandavideos von sich anbiedernden PR-Abteilungen inzwischen im Anderson- Style anfertigen.
Das Diorama ist Wes Andersons Terrain. Seine Filme ähneln Puppenhäusern, sie sind, im Wortsinn, Ansichtssache, denn man muss sehr genau in sie hineinblicken, um sich einen Reim auf ihre Konstruktion machen zu können: die Welt als Wille und Wunderkammer, jeder Schauplatz ein Schaukasten, sein eigener, unerschöpflich detaillierter Mikrokosmos.
Die Oberflächen der Welt sind in Wes Andersons Filmen so sehr (und so zwanghaft) in Ordnung gebracht, dass einem schwindelig werden könnte vor all ihren rechten Winkeln und Symmetrien, ihren abgezirkelten Parallelfahrten, ihrer Aufgeräumtheit und exakt farbabgestimmten Ausstattung. Das ist das – in der Wissenschaft noch nicht hinreichend beschriebene – Anderson-Paradoxon: Hinter der Superklarheit eines streng systematisierten Universums verbirgt sich eine Art Vertigo – die nackte Angst vor einem Leben, dem emotionales oder politisches Chaos droht, in dem Trauer, Tod und unerwidertes Begehren jederzeit die Oberhand gewinnen könnten.
Andersons jüngstes Werk, das Wüsten- Breitwandtheater Asteroid City (2023) ist diesbezüglich instruktiv. In einer wegen ihres gigantischen Meteoritenkraters prädestinierten Kleinstadt im amerikanischen Südwesten veranstaltet die Forschungsabteilung des US-Militärs 1955 eine «Stargazer Convention» für jugendliche Hochbegabte. Eine dort gefundene Gesteinskugel, die von einem fernen Mond zu stammen scheint, ist das Fetischobjekt Nummer eins. Andersons elfter Film glänzt in unwirklichen Farbtönen und zeigt erneut, warum sein Schöpfer als grosser Kolorist des Gegenwartskinos gilt: In das Azur des Himmels mischt sich giftiges Grün, der Wüstensand und die Felsen in der Distanz schimmern in blendendem Orange. In ein paar Kilometern Entfernung werden Nukleartests durchgeführt, dann und wann wächst ein Atompilz in den Himmel. Am Ende der Welt ist die kommende Apokalypse besonders sinnträchtig zu besprechen.
Seit Rushmore (1998) schon gibt Anderson seinen Arbeiten gern intensive Farben. Tilda Swinton wird in Moonrise Kingdom (2012) in strahlendem Kobaltblau in Szene gesetzt, als wäre sie einem der Filme des Regie-Duos Powell & Pressburger entstiegen, die nicht umsonst so oft Farben im Titel tragen (Black Narcissus (1947), The Red Shoes (1948)): eine Erscheinung in Technicolor. Farbe und Text, sagt Anderson, seien in seiner Arbeit «einander fast entgegengesetzt».
Seit 2005 lebt Anderson, in New York City sozialisiert, in Paris. Inzwischen könnte man ihn fast schon einen europäischen Filmemacher nennen. In der Familien- und Wunderkinderkomödie The Royal Tenenbaums (2001) brachte er seinen Stil 2001 erstmals zu voller Blüte; von seiner indischen Zugreise Darjeeling Limited (2007) arbeitete er sich zu The French Dispatch (2021) voran, einer Hommage an das legendäre Magazin The New Yorker. 2009 und 2018 inszenierte Anderson zudem zwei fabelhafte Stop-Motion- Trickfilme mit Tierschlagseite (Fantastic Mr. Fox und Isle of Dogs).
Als passionierten Schatzsucher muss man sich Wes Anderson tatsächlich vorstellen. Optischen Sensationen jagt er mit verblüffender Beharrlichkeit hinterher. Der Gegenwart bleiben seine Filme in der Regel fern, um von den verschütteten Bildwelten vergangener Dekaden fantasieren zu können - und diese wie Zukunftsvisionen aussehen zu lassen. Schon sein erster Kurzfilm, die gleichnamige Vorstudie zum Anderson-Debüt Bottle Rocket (1996), klang 1994 jazzig, im Soundtrack tönten Artie Shaw, Chet Baker, Duke Ellington und Horace Silver. Andersons Filme waren immer schon Zeitmaschinen, akribisch geplant und virtuos konstruiert. Perfektionismus lässt er sich dennoch nicht unterstellen. «Die Art von Film, die ich mache, hätte ohne eine sehr exakte Auseinandersetzung mit den Details nicht den geringsten Sinn. In meinen Werken geht es vor allem um Atmosphäre und anmutige Kleinigkeiten. Ich bin nicht Stephen King, brauche daher langwierige Feinarbeit. » Gedächtnis und Fantasterei gehen bei Wes Anderson seltsame Mischverhältnisse ein. Seine Filme seien voller Dinge aus seiner Kindheit, die einst in seinem Kopf wirbelten, wenn er nachts nicht schlafen konnte.
Viele seiner verspielten Werke basieren auf dem heiteren Kunstgriff, infantile Erwachsene mit altklugen Kindern zu konfrontieren. Moonrise Kingdom (2012) etwa berichtet von einer Amour fou unter Halbwüchsigen. In der Spielzeugwelt des Wes Anderson verwandelt sich jede denkbare Szenerie in ein Kinderzimmer, in dem allerdings eine strenge Choreografie waltet. Auch die nostalgische Tönung seiner Filme hat einen Stich ins Abstrakte, denn Anderson ist nicht alt genug, um sich an die 1950er- und 1960er-Jahre, in die er am liebsten abtaucht, erinnern zu können.
Mit der Idee, einen Thriller oder einen Horrorfilm zu drehen, spielt er, wie er sagt, «unentwegt», Rosemary’s Baby (1968) und Chinatown (1974) gehören zu seinen Lieblingsfilmen. Er glaube bei jedem neuen Werk, das er ins Auge fasse, dass er diesmal etwas ganz anderes als eine Komödie machen werde; er träumt von «viel dunkleren» Filmen. Seltsamerweise werde «am Ende trotzdem immer wieder eine Komödie draus», inspiriertes, herausforderndes Setzkastenkino, das über Witz, Schärfe und Anmut verfügt. Man muss schnell denken und noch schneller sehen und hören, um auch nur Bruchstücke seiner anspielungsreichen Gesamtkompositionen wahrnehmen und würdigen zu können. Denn Anderson arbeitet mit einer Betriebsgeschwindigkeit von geschätzt 20 Geistesblitzen in der Sekunde.
Als Neudeuter der amerikanischen Filmkomödie geniesst Anderson Weltgeltung. Das komplexe Wesen seiner Werke ist in Begriffen und Kategorien nicht leicht zu erfassen; sie sind weder realistisch noch surrealistisch, vielmehr etwas Drittes, Meta-Erzählerisches, für das es vorläufig noch keine Bezeichnung gibt. Hochmusikalisch ist Andersons Kino in jedem Sinn. In Moonrise Kingdom sind Hank Williams, Françoise Hardy und Benjamin Britten zu hören, geben den schon an sich absonderlichen Ereignissen jeweils befremdlich neue Färbungen. Es gibt Stichwunden, Depression und Liebeskummer, ein Hund kommt gewaltsam zu Tode. Für einen Kinderfilm ist dieses Werk zu desillusioniert, für einen Actionfilm zu stilisiert und für ein Drama zu exzentrisch. Anderson hat kein Genre und kein «Zielpublikum», er richtet sich vielmehr an jede:n, die/der für seine Ideen und seinen Schönheitssinn empfänglich ist. Für den sagenhaften Wes Anderson ist grosses Kino ein Kinderspiel. Er meint es mit ihm glücklicherweise ausgesprochen ernst.
Stefan Grissemann ist Filmkritiker und Journalist (2019 Journalist des Jahres in der Kategorie Kultur). Er leitet das Kulturressort des österreichischen Nachrichtenmagazins profil. Als Herausgeber und Autor hat er über Edgar G. Ulmer, Ruth Beckermann und Ulrich Seidl diverse Monografien publiziert.
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