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Filmreihe

 
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Martin Scorsese

Grosses Kino


Er hat ein halbes Jahrhundert Filmgeschichte wie kaum ein anderer geprägt, seine Filme sind längst unvergessliche Klassiker, die jede:r gesehen haben muss. Der amerikanische Ausnahmeregisseur Martin Scorsese ist bis heute einer der ganz grossen Regisseure: ein herausragender Genrefilmer, dessen Gangster, Mafiosi und Machos zu den berühmtesten Kinohelden aller Zeiten gehören – von Goodfellas bis The Irishman; und der Genres wie den Film noir gekonnt in die Gegenwart zurückholt (Shutter Island). Schauspieler wie Robert De Niro (Taxi DriverRaging Bull oder Casino) und Leonardo Di Caprio (The DepartedThe Wolf of Wall Street) hat er zu Superstars gemacht. Einer, der sich noch ‘grosses’ Kino traut – glamouröse, rasante und populäre Meisterwerke hervorbringt, die unterhalten wollen und gesellschaftliche Zustände messerscharf offenlegen. Und ein Cinephiler, der sich als Connaisseur von Filmschätzen aus der ganzen Welt für die Rettung des internationalen Filmerbes einsetzt. Zum 80. Geburtstag widmen wir Martin Scorsese eine grosse Retrospektive!  

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GEFALLENE ENGEL – Martin Scorsese zum Achtzigsten

 

«It could have been perfect … and then we fucked it all up.» Ace Rothstein spricht diesen Satz im Voiceover von Casino (1995), als er die mafiöse Geldscheffelstruktur beschreibt, die die Spielbetriebe im Las Vegas der 1970er–Jahre bestimmte. In jenem Satz steckt aber nicht nur das in Scorseses Filmen sich stetig wiederholende Muster von Aufstieg und Fall einer Figur, sondern auch die Feststellung der Eigenverantwortung des Aufgestiegenen für ebendiesen ihren Fall. Die ‚Helden‘ von Martin Scorsese sind keine unschuldigen Opfer unglücklicher Umstände – nicht einmal Jesus von Nazareth in The Last Temptation of Christ (1988) ist das –, sie sind vielmehr ohnmächtig, ihre Triebe und Impulse rational zu fassen und zu sublimieren. Und so sind es die Gier, die Eifersucht, die Rachsucht, die Lust an der Gewalt, das falsch verstandene Ehrgefühl, die sie in den Abgrund führen. Darinnen sitzen sie dann, zu Kleinbürgern geschrumpft wie Henry Hill in Goodfellas (1990), und führen Klage; sie prahlen von den gloriosen Tagen, als sie Monster waren, und der Filmemacher, der keine Berührungsangst kennt, setzt sie in Bilder. Denn er ist unter ihnen aufgewachsen. 

 

Geboren wurde Martin Scorsese am 17. November 1942 zwar im New Yorker Borough Queens, doch noch bevor er in die Schule kam, übersiedelten seine italienischstämmigen Eltern – beider Familien wurzeln in der Provinz Palermo auf Sizilien – nach Little Italy, Manhattan; dort ist Marty gross geworden. Und weil er ein asthmatisches Kind war, hatte er Zeit genug, das Treiben auf den Strassen zu beobachten, er musste/konnte ja nicht mitmischen bei den ruppigen Spielen der Burschen, die den Machismo erprobten. Und weil er einen geradezu kinosüchtigen Vater hatte, der den Sohn immerzu mitnahm in die Lichtspielhäuser, prägten ihn die Filme der Vierziger und Fünfziger. Und obwohl er eine Zeitlang hatte Priester werden wollen, ja sogar das Seminar besuchte, landete er schliesslich doch an der Filmschule und lernte nun noch das europäische Kino kennen. Und dann wurde er im Laufe der Jahre und Jahrzehnte zu einem der wahrhaft bedeutenden US-amerikanischen Filmemacher, einer, der nicht nur als Drehbuchautor, Regisseur und Produzent vielfach reüssierte, sondern auch einer, der sich als Mitgründer dreier bedeutender Stiftungen – The Film FoundationThe World Cinema ProjectThe African Film Heritage Project – um die Bewahrung des Filmerbes, um dessen Sicherung und Restaurierung verdient macht. Die Internet Movie Database verzeichnet für Martin Scorsese 169 Auszeichnungen (bei 283 Nominierungen); darunter die Goldene Palme, die ihm Taxi Driver 1976 in Cannes einbringt, den Silbernen Löwen für Beste Regie, mit dem er 1990 in Venedig für Goodfellas ausgezeichnet wird, sowie den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk, den er ebendort 1995 erhält. Auf einen Regie-Oscar allerdings muss Scorsese, obwohl insgesamt neun Mal für einen solchen nominiert, sehr lange warten; schliesslich, da ist er nach aller Überzeugung längst schon überfällig, erhält er ihn 2007 für The Departed (2006), eine virtuose Studie der Verflechtungen von irischen Gangstern und Polizei in Boston, und das rasante Remake der ziemlich komplizierten Infernal Affairs-Trilogie von Andrew Lau und Alan Mak.  

 

Jenes Little Italy, das Scorsese in Mean Streets (1973) und Raging Bull (1980) festgehalten hat; in dem die Einwanderer aus Italien an den Sitten und Gebräuchen der Heimat festhielten, in dem der Klerus und die Mafia regierten und in das die alkoholgeschwängerte Verwahrlosung der um die Ecke gelegenen Bowery hineinsuppte – jenes Viertel gibt es längst nicht mehr. Es ist wie jene Gegend um die 42nd Street, in der Taxi Driver Travis Bickle sich schlaflos nach einer Sintflut sehnte, die den Abschaum aus Huren und Drogendealern in die Gullys schwappen sollte, der Kommerzialisierung der Metropole zum Opfer gefallen. Nostalgie ist es allerdings nicht, die einen angesichts von Scorseses New Yorker Zeitkapselfilmen ergreift; zu denen unter anderen auch The Age of Innocence (1993) zu zählen ist, ein Porträt der restriktiven New Yorker Upper Class des späten neunzehnten Jahrhunderts, sowie The Wolf of Wall Street (2013), eine schonungslos irre Darstellung der Welt betrügerischer Börsenmakler in den 1990ern. In Scorseses Arbeiten feiert keine mit sentimentaler Wehmut imaginierte ‚gute alte Zeit‘ Wiederauferstehung, vielmehr richtet sich in ihnen ein reflektierend interessierter, des Öfteren auch heimlich belustigter Blick auf einen genau umrissenen historischen Abschnitt und auf eine bestimmte soziale Gruppe. Und während er nach dem Typischen und Repräsentativen sucht, und es nicht selten im Barocken und Manierierten findet, formulieren sich die eigentlichen Fragen: die nach dem Glück, die nach der Moral, die nach den Beweggründen. Und natürlich die nach dem American Dream, und auf wie viele verschiedene Arten und Weisen er sich verraten und pervertieren lässt. 

 

In immer wieder neuen Anläufen, in unterschiedlichen Genres, mit unterschiedlichen Methoden und mit nie nachlassendem Mitgefühl untersucht der grosse Filmemacher Martin Scorsese, der dieses Jahr seinen achtzigsten Geburtstag feiert, Verblendung und Fehlbarkeit des Menschen, genauer: Mannes, noch genauer: Machos. Bei dem es sich ausserdem häufig um einen Angehörigen des katholischen Glaubens handelt, ein Umstand, der jede Menge Möglichkeiten für Doppelmoral und Bigotterie bereithält. Scorseses Oeuvre Männerlastigkeit anzukreiden, verkennt dessen Erkenntnisinteresse, übersieht die Demontage virilen Heldentums, die sich darin anhand von ins Groteske überzogenen Klischeebildern vollzieht. Anders gesagt, man kann jedes Mal, wenn eine Figur von Joe Pesci einen ihrer berühmt-berüchtigten, zornglühenden Ausraster hat, auch an einen umherzischenden Luftballon denken, aus dem die Luft entweicht. Überhaupt fällt es schwer, in den Scorsese’schen Gangstern – die sich nicht selten (und zuletzt in The Irishman (2019)) endlos geschwätzig in ihren sprachlichen Codes verheddern, woraufhin dann mal wieder die Stimmung zum Teufel ist – Ähnlichkeiten mit jenen landläufigen, cool-melancholischen Outlaw-Gestalten zu finden, wie sie zu Dutzenden das Genre bevölkern. Romantisierung, wie gesagt, ist Scorseses Sache nicht.

 

Ob er nun, wie in Alice Doesn’t Live Here Anymore (1974), von einer verwitweten Alleinerzieherin erzählt, die von einer Karriere als Sängerin träumt und dann doch als Kellnerin und Hausfrau endet; oder, wie in The Aviator (2004), von Howard Hughes, dem Millionär, Flugzeugbauer, Film- und Frauenverrückten, dem es materiell an nichts fehlt und der eigentlich zufrieden sein könnte, wären da nicht seine vielfältigen Zwangsneurosen – über den Preis, der zu zahlen ist, wenn eine:r Pläne hat, macht Scorsese sich und uns keine Illusionen. Täuschen kann man sich allenfalls hinsichtlich der profunden Bedeutung dessen, was Scorsese in seinem vorwiegend aus Genrefilmen gebildeten Werk verhandelt. In Scorseses Händen werden die Werkzeuge einer jeden Genreerzählung zu chirurgisch präzisen Instrumenten der gesellschaftlichen Analyse. Man darf das Genre nicht unterschätzen; das gilt ohnehin immer, aber hier noch viel mehr. Beispiel Shutter Island (2010), die opulente Big-Budget-Variante eines B-Pictures; ein Drei-Manegen-Zirkus, aber keine Zirkusnummer. Manege eins: eine Pulp-Story um zwei Cops im Irrenhaus, die vermeintlich einer Verschwörung auf die Spur kommen. Manege zwei: ein Film, der dies in unberechenbare Rhythmen, wilde Zeit- und Ortswechsel und unvermittelte Abstürze in unbekannte Abgründe übersetzt. Manege drei: abstrakte Ebene, die auf den Spuren der Gewalt durch die US-amerikanische Mentalitätsgeschichte die seelische Verfasstheit des aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrten Mannes beschreibt und an die psychotische Tradition des Film noir anknüpft. Shutter Island ist verrückt, verspielt, entgrenzt und zu zeiten schlicht wahnsinnig, und er ist ein meisterliches Beispiel für das Werk eines Mannes, der zutiefst an die Wirkmacht des Kinos glaubt.  

 

Alexandra Seitz ist freie Autorin und Filmkritikerin. Sie lebt und arbeitet in Berlin und Wien

 

Wir danken dem Filmbulletin – Zeitschrift für Film und Kino für die Medienpartnerschaft im Rahmen unserer Martin Scorsese-Reihe und unseres Programms zum World Cinema Project.

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