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Filmreihe

 
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Larissa Schepitko

Die Aufrechte


Ihre Karriere gleicht einer Sternschnuppe: rasant, brillant und viel zu früh erloschen. Nur eine Handvoll Filme konnte Larissa Schepitko realisieren, ehe sie auf dem vielversprechenden Höhepunkt ihres Schaffens aus dem Leben gerissen wurde. Mit ihrem unbedingten Willen zur Wahrhaftigkeit und ihrem kompromisslosen Einstehen für die Kunst war sie da schon längst zur Ikone des sowjetischen Kinos der 60er- und 70er-Jahre avanciert. Schon für ihren Abschlussfilm Hitze (1963) wurde die Elevin des Altmeisters Alexander Dowschenko am Filmfest in Karlovy Vary für das Beste Debüt ausgezeichnet und zementierte 1966 mit Flügel, dem intimen Portrait einer ehemaligen Kampfpilotin, die nach dem Zweiten Weltkrieg ein «normales» Leben zu führen versucht, ihre Gabe, die Innenwelten ihrer zerrissenen Protagonisten in eindringlichen Bildern zu evozieren.

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Mit dem Partisanendrama über Verrat und Martyrium, Der Aufstieg, schaffte sie auf der Berlinale 1977 mit dem Goldenen Bären ihren endgültigen internationalen Durchbruch – und verunglückte kurz darauf im Alter von 40 Jahren bei den Vorbereitungen für ihren fünften Spielfilm. Das Stadtkino Basel widmet der grossen «Unvollendeten» eine Hommage.

 

Sie wäre heute über 80 Jahre alt und wohl die Grande Dame eines Kinos der Wahrhaftigkeit, das es so nicht mehr gibt: unverfälscht, ehrlich, emotional. Und wahrhaftig, das war Larissa Schepitko auch selbst. Eine Frau von Format, mit der Kühnheit im Blick und dem wachen Geist eines hochsensiblen Menschen, hat sie immer alles gegeben, vor wie hinter der Kamera, und vor allem in ihren Filmen, diesem kleinen, aber gewaltigen Œuvre, das sie der Welt hinterlassen hat. Eine gute Handvoll Dramen sind es geworden, in denen die sowjetische Regisseurin, die gelegentlich auch schauspielerte, mit grossem Respekt, sparsamsten Mitteln und kluger Eleganz das Innere ihrer Figuren erforscht und dabei stets Anklänge an die Vergangenheit und an Mystik suggeriert. In diesem Zusammenspiel von etwas Archaischem und modernen Ausprägungen der Psyche hatte Schepitko ihre Berufung gefunden. Ihr viel zu früher Tod, mitten im Leben, war weder geplant noch vorhersehbar – ein Unfall, ein Schicksalsschlag, der ein tiefes Loch in das Herz derjenigen brannte, die sie kannten und liebten, und der ihr kraftvolles Werk als junge aufstrebende Auteurin der Neuzeit lange mit in die Versenkung riss.

 

Geboren wurde Schepitko 1938 in der Ukraine, mitten hinein in den gewaltvollsten Abschnitt des europäisch-sowjetischen 20. Jahrhunderts. Ihre gesamte Familie war in den Grossen Vaterländischen Krieg involviert. Bereits als Kind hat sie beobachtet und aufgesaugt, gelitten und eine besondere Eigenschaft entwickelt: offen-kritische Empathie. Auf der Leinwand machte sie daraus eine Kunst. Gleich ihr erster abendfüllender Spielfilm sollte der damals gerademal 25-jährigen Filmschulabsolventin eine gewisse Anerkennung auch ausserhalb der Sowjetunion zukommen lassen (der Film wurde 1964 beim Filmfest in Karlovy Vary mit dem Symposium Grand Prix ex aequo ausgezeichnet), wenn auch längst nicht die Beachtung, die dieser Kraftakt von einem Film verdient. Entstanden unter brutalsten klimatischen Bedingungen in der kirgisischen Steppe und letztlich nur mit etwas Glück und Hilfe von aussen realisierbar, vereint Hitze (Snoj, 1963) auf mutige Weise politisches und menschliches Konfliktpotential. Erzählt wird darin die Geschichte eines jungen Komsomol-Enthusiasten, der nach Ende seiner Schulzeit in die Steppe kommt, um beim Aufbau einer neuen Zeit, eines neuen Sozialismus zu helfen, und dabei immer wieder an der Sturheit und Abgeklärtheit eines stalinistischen Landarbeiters abprallt, der seine etablierte Stellung im Ort durch den Neuankömmling gefährdet sieht. Schepitko, nach einer Gelbsuchterkrankung von der Krankenbahre aus filmend, konnte ihre ambitionierte Adaption nach Tschingis Aitmatows Romanvorlage «Das Kamelauge» am Ende zwar nur mit Hilfe ihres späteren Ehemanns Elem Klimow fertigstellen. Und doch ist der Film geprägt von einer leisen, feinsinnigen Ästhetik, die allein der jungen Regisseurin zuzuschreiben ist. Landschaftsbilder von extremer Stärke und Schönheit zugleich konkurrieren hier in ähnlicher Weise mit einem beseelten Realismus wie die Jugend mit dem Alter und der Fortschrittswille mit dem Festklammern an eine vergangene Ära. Allein die unbedingte Natürlichkeit ihres Kinos macht es mitunter schwer, dessen Meisterlichkeit zu erkennen. Denn Schepitkos Kamera prunkt nicht. Sie stellt sich nicht selber dar. Ihr Wesen liegt in der Beobachtung, behutsam und präzise. In einem Sehen, das nicht von aussen oder oben gelenkt wird, sondern tief im Innern situiert ist.

 

Die zarte Poesie, die Schepitko ihrem realistischen Kino schon damals einschrieb, kam nicht von ungefähr. Nach dem Schulabschluss 1954 versetzte es die junge Schönheit aus der ukrainischen Provinzstadt Artemovsk in eines der intellektuellen Zentren der Sowjethauptstadt Moskau: das berühmte VGIK (Allrussisches Staatliches Filminstitut). Es waren die noch aus der Vorkriegsavantgarde kommenden ganz Grossen, bei denen sie ihr Handwerk lernte, allen voran der Ukrainer Alexander Dowschenko. Sein Tod hätte sie zum Waisenkind gemacht, gestand Schepitko einmal: «Er führte uns in die Kunst wie in einen Tempel, keine Bigotterie, Heuchelei, Scheinheiligkeit duldend. Nach seinem Tod erst haben wir gespürt, wie unerträglich schwer es war, so zu leben. Aber es musste möglich sein, denn er hatte so gelebt.» In dem letzten Filmprojekt ihres Maître, dem elegischen Poem vom Meer (Poema o more, 1958), den dessen Ehefrau Julija Solnzewa nach seinem Drehbuch realisierte, spielt Schepitko nicht nur eine kleine Rolle, sondern stand Solnzewa auch in der Umsetzung als Assistentin zur Seite.

 

An Klimow, der ebenfalls ein Abgänger der VGIK war, sollte sie schliesslich ihre neue künstlerische Reibungsfläche finden. Die beiden heirateten, nachdem Schepitko zunächst einige Anträge des Regisseurs abgelehnt hatte, und nur unter der Bedingung, dass er sich auch nach Schliessung des Ehebündnisses nicht in ihre Arbeit einmischen würde. Jeder für sich und doch gemeinsam bestimmten ihre Werke neben denen ihres grössten Zeitgenossen Tarkowski das sowjetische Kino der sechziger Jahre mit. Eines der wichtigsten Werke dieser Zeit ist das 1966 entstandene kontroverse Drama Flügel (Krylja), ein Film, der weit mehr ist, als das klarsichtige Porträt einer ehemals gefeierten Kampfpilotin im Konflikt mit sich selbst auf den ersten Blick vermuten lässt. Maja Bulgakowa, die nur wenige Auftritte im Kino hatte, ist darin in ihrer Glanzrolle als Nadeschda Petruchina zu sehen, die mit Anfang vierzig in mehrfacher Hinsicht in der Krise steckt. Nach dem Ende des Grossen Vaterländischen Kriegs haben sie die Umstände langsam aus dem Fliegersitz hinaus in den Alltag katapultiert, in ein Leben, das ihr genauso fremd ist wie die klassische Frauenrolle, inklusive Herd und Lehrtätigkeit, die sie darin erfüllen soll. So hart wie ihr Schritt ist sie mit sich selbst und doch hat sie auch das Gefühl, über den Wolken zu schweben, verinnerlicht. Nadeschda ist eine Frau zwischen den Stühlen, den Geschlechtern, den Zeiten und den Systemen, wie Schepitko auch immer etwas dazwischen stand mit ihrer aufgeschlossenen, starken und bestimmten Persönlichkeit. Vielleicht ist Flügel genau deshalb so ein aufrichtiger, nachdenklicher, mitunter verträumter und in seiner klaren Bildkomposition dennoch verletzlicher und sensibler Film, der nicht in der grossen Historie, sondern vielmehr im gebrochenen Blick und den noch so kleinen Gesten seiner bemerkenswerten Protagonistin nach Wahrheiten sucht.

 

Tatsächlich musste auch Schepitko im Laufe ihrer kurzen Karriere Einschnitte erfahren, die ihre Spuren hinterliessen. Der zunächst als Fünfteiler geplante Episodenfilm Der Beginn eines unbekannten Zeitalters (Natschalo newedomogo weka, 1967), ursprünglich als Beitrag zur 50-Jahr-Feier der Revolution geplant, liess sich nur mit gravierenden Änderungen am Grundkonzept realisieren, wurde nach der Fertigstellung (lediglich als Zweiteiler) aus Zensurgründen direkt verworfen und erst über 20 Jahre später erstmals aufgeführt. Sein unsentimentaler, offener Blick auf die frühen Tage des Kommunismus war alles andere als erwünscht bei den Breschnew-Zensoren, die sich anstatt unverfälschtem Kunstwillen einen repräsentablen Propagandafilm für ihre Zwecke erhofft hatten. Für Schepitko ein schwerer, ein persönlicher Schlag, der sie jedoch nicht davon abhalten sollte, weiterzumachen in ihrem ewigen Bemühen, der Frage nachzugehen, was das Leben lebenswert macht.

 

1971 entstand mit Du und ich (Ty i ja) ihr stilistisch anspruchsvollster und zugleich intimster Film – und der einzige in Farbe: Elliptisch erzählt, durchlaufen zwei Ärzte (und die Frau zwischen ihnen) darin das, was man für gewöhnlich als Midlifecrisis bezeichnet. Eingeschlossen in einem Land, einer Ideologie und einer Gesellschaft, die mit wachem Auge zunehmend immer weniger schlüssig erscheint, versuchen ihre Mittdreissiger-Protagonisten sich in ihrem Dasein als Sowjetmenschen neu zu orientieren: nach innen und nach aussen, nach West und Ost, männlich und weiblich, metaphysisch und sozialistisch. Auch hier lebt Schepitkos Kino im bewussten Zwiespalt zwischen Begehren und Ethik.

 

Danach wurde es zunächst einige Jahre ruhig um die engagierte Regisseurin, die sich auf ihre Familie konzentrieren wollte, bevor sie 1977 mit Der Aufstieg (Woschoschdenie) ihren Geniestreich realisierte. Bemerkenswert nicht nur in der ästhetischen Umsetzung des auf Wassil Bykaus Roman «Sotnikow» beruhenden archaischen Dramas um Verrat und Schuld, sondern regelrecht bestürzend in der Wucht der Bilder sowie der schauspielerischen Leistung der beiden Hauptfiguren, zwei russische Partisanen, die im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen gefangen genommen, gefoltert und in ihrer Treue zum Vaterland auf die Probe gestellt werden. Das Kriegsdrama ist ein realistisches, ein transzendentes Opus, für das Schepitko auf der Berlinale damals wohlverdient mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Daraufhin stand ihr die Filmwelt offen und auch Hollywood breitete die Arme für sie aus. Doch Schepitko lehnte ab, schlug wie so oft einen anderen Weg ein, als man es von ihr erwartete, und zog es vor, sich einem neuen Wunschprojekt, einer Herzensangelegenheit zu widmen.

 

Für die Regisseurin, die immer jeden Film drehte, als sei es ihr letzter, kam in Abschied von Matjora (Proschtschanje, 1979/83) schliesslich alles zusammen. Das zukunftsweisende Öko-Drama handelnd von Elektrizitätsgewinnung und Traditionsverlust in einem kleinen Dorf, das auf einer Insel mitten in einem sibirischen Fluss liegt. Nur diesmal sollte die elegische Fabel, angesiedelt im Spannungsfeld zwischen Gestern und Morgen, ihr nichts Gutes verheissen – am 2. Juli 1979, auf der Fahrt zum Dreh, kam Schepitko im Alter von nur knapp über 40 Jahren ums Leben. Vollendet hat den Film erneut ihr Ehemann in ehrenwerter, liebevoller Schwerstarbeit. Doch selbst er konnte dem Werk im Nachhinein nicht die Kraft, den Atem und die Feinheit seiner Gattin einhauchen. Die grosse Larissa Schepitko war gegangen, ohne Abschied nehmen zu können. Was bleibt, ist ihr einzigartiges Werk, das bis heute nichts von seiner Faszination verloren hat.

 

Pamela Jahn


Wir danken dem Slavischen Seminar der Universität Basel und dem Osteuropa Forum Basel für die schöne Zusammenarbeit und Unterstützung.

 

www.osteuropaforumbasel.ch

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