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Filmreihe

 
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Heddy Honigmann

Wege zum Glück


Ihre Filme sind Oden an das Leben – zeigen es in all seiner Härte und Schönheit und wie wertvoll es letztlich ist. Honigmann war zeit ihres Lebens Kosmopolitin, ihr Lebensweg spannte sich über Peru, Mexiko, Israel und Frankreich bis nach Rom und Amsterdam. Geprägt sind ihre filmischen Begegnungen mit Menschen aus aller Welt von einer ungeheuren Neugier und einem Blick für das Flüchtige. Genau hinschauen und genau zuhören, dass zeichet Honigmanns filmische Methode aus. Unter die Haut und hinter die Alltäglichkeit scheint sie zu filmen und eröffnet so einen einzigartigen Zugang zu Erinnerungen und zu den Menschen, die vor ihre Kamera treten: allesamt (Überlebens-)Künstler:innen, seien es radschlagende Kinder (El olvido), zu Rumbaklängen tanzende Arbeiterinnen (Dame lo mano) oder musikliebende Soldaten (Crazy), die lange im Gedächtnis haften bleiben. Das Stadtkino Basel präsentiert eine ausführliche Werkschau der im Mai diesen Jahres verstorbenen Ausnahmeregisseurin! 

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Ode an das Leben und die Sterblichkeit

 

Es kommt selten vor, dass man sich Tage nachdem man einen Film gesehen hat, fragt, wie es einem dort nur kurz auftretenden Protagonisten wohl ergeht. Nach der Begegnung mit den dokumentarischen und fiktionalen Filmen der in Peru geborenen, niederländischen Filmemacherin Heddy Honigmann passiert einem das aber die ganze Zeit. Da ist zum Beispiel ein persischer Mann, der in Forever (2006) am Grab des Schriftstellers Sadegh Hedayat auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris auftaucht. Honigmann beginnt ein Gespräch mit ihm. Zunächst wirkt er zögerlich, lächelt nett, aber abwehrend. Sie stellt ihm Fragen, lotet die Grenzen des Intimen aus. Zwischen den beiden entsteht ein Vertrauen. Wir dürfen dabei zusehen. Der Mann öffnet sich schlussendlich, singt ihr ein persisches Lied vor und offenbart in wenigen Momenten ein Seelenleben, das nachhaltig beschäftigt. 

 

Ein anderes Mal filmt sie in O Amor Natural (1996) zwei ältere Damen in einer alten, «Bondinho» genannten Strassenbahn in Rio de Janeiro. Sie lässt die zwei strahlenden Frauen erotische Gedichte des Lyrikers Carlos Drummond de Andrade lesen. Es ist eine lockere, verspielte Situation. Das Licht fällt durch die Fenster auf die beiden grinsenden Gesichter, die in den betörenden Beschreibungen von Sexualität ihre Jugend wiederentdecken.

 

Die Kamera will nichts von diesen Menschen. Stattdessen ermöglicht sie ihnen, etwas zu sein, was sie sonst verbergen. Man könnte sagen, dass Honigmann unter die Haut und hinter die alltägliche Flüchtigkeit filmt. Wo ist dieser persische Mann jetzt? Wie haben die beiden Frauen ihr weiteres Leben verbracht? Man fragt sich das, weil Honigmann zulässt, dass sich die Menschen, mit denen sie spricht, entfalten. Ihre Filme sind Ausdruck einer besonderen, weil seltenen Fähigkeit, hinzuschauen und gleichzeitig zuzuhören. Es ist ein Kino der Begegnungen. Barmänner (El olvido, 2008), Taxifahrer (Dame lo mano, 2004, [Metaal en melancholie], 1994) und immer wieder wie zufällig ins Bild spazierende Passanten bevölkern die Filme der im Mai diesen Jahres verstorbenen Filmemacherin. Sie sucht und findet die letzten Orte des modernen Lebens, in denen Begegnungen noch möglich sind. Ihre Drehorte bilden ein Inventar möglicher Zufälle des Lebens: Kreuzungen, Gräber, Cafés, Taxis, Tanzclubs. Honigmann blickt nicht auf diese Orte, sondern wird ein Teil von ihnen. Wiederholt filmt sie auf der Strasse. Dort, so sagt das Klischee, ist das wahre Leben. Dort leben aber auch die Vergessenen, Ausgestossenen und Verarmten, für die sich die Filmemacherin oftmals interessiert. Dabei orientiert sie sich stets an einem Aufhänger, an einer Frage, die nur Vorwand ist, um den Menschen näherzukommen. Sie lauscht deren Geschichten und Erinnerungen, beobachtet aber gleichzeitig ihre Hände oder filmt scheinbar Nebensächliches wie ein zuhörendes Kind. Alles wird angetrieben, von einer Sehnsucht, die vor der Kamera aufleuchtenden Existenzen zu verstehen. Wer glaubt, dass Filmschaffende etwas zu sagen haben sollten, wird von Honigmann eines Besseren belehrt. Sie sollten vor allem Fragen haben. In O amor Natural befragt die Regisseurin bevorzugt ältere Bewohner:innen Rios nach den Gedichten Drummond de Andrades, in Dame lo mano folgt sie den Spuren der Rumba in New York, und in Crazy (1999) erkundigt sie sich bei niederländischen UN-Soldaten nach deren Lieblingsmusik. Die Ausgangsfragen öffnen Tore in berührend intime Tiefen. Die genannten Werke handeln letztlich von Traumata, Begehren oder Entfremdung. 

 

Honigmanns Filme mäandern befreit von narrativen Zwängen, gerade deshalb, weil sie zu Beginn Rahmen absteckt, um sich darin auszutoben. Scheinbare Abschweifungen entpuppen sich als neue Fäden, denen die Filmemacherin folgt wie eine faszinierte Katze der Flugkurve einer Wespe. Man begleitet sie gern dabei, weil sie niemanden vorführt und allen mit grosser Zärtlichkeit begegnet. Was wie ein Klischee dokumentarischer Praxis klingt, erscheint in ihrer Arbeit als Essenz.  Gleichzeitig werden über die persönlichen Erzählungen der Protagonist:innen sozialpolitische Fragen verhandelt. Das wird vor allem in den beiden in Peru gedrehten Filmen El olvido und Metaal en melancholie deutlich. Letzterer wirft sich in die von Verkehrsregeln nur selten tangierten Strassen Limas, um anhand des Verhältnisses zwischen Menschen und ihren quasi vor der Kamera zerfallenden Autos von einer nationalen Wirtschaftskrise und der korrupten Regierung, die diese verantwortet, zu erzählen. 

 

Es ist recht naheliegend, bei Honigmann von einer dokumentarischen Vermessung Lateinamerikas (u.a. Brasilien, Kuba, Peru) auszugehen, vielmehr aber spiegeln die Filme der Tochter jüdischer Geflüchteter ihr Leben als Kosmopolitin – sie wächst in Lima auf, bereist Mexiko, Israel, Frankreich, studiert in Rom Film und zieht nach Amsterdam. Was die Filme mehr eint als geografische Zuschreibungen, ist die unablässig mitschwingende Frage: Was bedeutet es, klein und sterblich zu sein in einer grossen, bunten Welt? Honigmann nähert sich dem Allgemeinen über das Individuelle und geht dabei vom Gesellschaftlichen ins Intime. Aus diesen gegenläufigen Bewegungen entstehen Reibungen, die den einzelnen Menschen immer zugleich als freies Individuum und als machtlos im Triebwerk der grösseren Zusammenhänge verstehen. Das spürt man auch sehr stark in Honigmanns fiktionalen Filmen wie Tot ziens (1995) oder Hersenschimmern (1988). Dem Frage-und-Antwort-Spiel ihres dokumentarischen Schaffens beraubt, irren ihre Figuren, sich hilflos ans Leben klammernd, durch die Strassen und verlieren ihr mögliches Glück aus den Augen. 

 

Einfacher formuliert könnte man zusammenfassen, dass Honigmanns Filme eine Spannung zwischen Leben und Tod, Erinnerung und Vergessen evozieren. Besonders herzerwärmend gelingt ihr das etwa in [O amor Natural], indem sie vitale, erotische Poesie auf Menschen treffen lässt, die diese aufgrund ihres Alters nicht mehr körperlich ausleben können. Das prahlerische Potenzgehabe alter Männer und die schmachtenden, vieldeutigen Blicke alter Frauen verdichten sich zu einer rhythmischen Auflehnung gegen den körperlichen Verfall. Der Film ist eine Ode an die befreiende Schamlosigkeit, wobei die Filmemacherin stets die patriarchalen Strukturen hinter dieser spezifischen Lust greifbar macht. Weder verurteilt noch verherrlicht sie. Sie hält die Ambivalenzen aus. Die Gedichte erwecken Gefühle, die man aus Mangel an Wörtern durchaus als «das Leben» bezeichnen könnte. Wie sehr Kunst uns zu ein wenig Glück verhilft, dass, so formulierte Honigmann einmal selbst, wäre das grosse übergeordnete Thema ihrer Arbeiten. Viele ihrer Protagonist:innen sind alt, in 100 Up (2020) sogar älter als 100 Jahre. Aber alle sind sie Künstler:innen. Versteckte Sänger wie der Perser am Père Lachaise in Forever, Strassenkünstler wie die radschlagenden Kinder in El olvido, Lebenskünstler wie die an der Friteuse schwitzende, stolz zu Rumbaklängen tanzende Arbeiterin in Dame lo mano und Überlebenskünstler wie die zu Tränen gerührten Soldaten in Crazy. Auch wenn die Frage nach dem Verbleib der Protagonist:innen, wie so oft, unbeantwortet bleiben muss, kann man sich zumindest sicher sein, dass sie gelebt haben. Mit Leib und Seele. Honigmann hat es für uns festgehalten. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist es schön, dass die Filmemacherin einmal auch sich selbst filmte. No hay camino (2021) heisst der Film, in dem Honigmann, von schwerer Krankheit gezeichnet, sich selbst begegnet. Dann steht sie, wie so viele ihrer Protagonist:innen, an der Schwelle zwischen dem blühenden Leben und der eigenen Endlichkeit. 

 

Patrick Holzapfel studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaften an der Universität Wien. Er ist Filmemacher und freischaffender Autor. Er schreibt literarische Texte und regelmässig in seinem Blog Jugend ohne Film über Film. Zudem arbeitet er als Kurator für verschiedene Filmmuseen. 

 

Wir danken Susanne Guggenberger, künstlerische Leiterin Bildrausch – Filmfest Basel, für die umfangreiche Unterstützung bei dieser Reihe.

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