WANG BING
Spuren aus China
Wang Bing ist einer der wichtigsten Dokumentaristen unserer Zeit und scharfsinniger Chronist Chinas. Er legt mit seinen Filmen Spuren in verborgene Lebenswelten, zeigt über den Alltag einfacher Menschen ein Land im Wandel, zum Greifen nah. Jeder Moment wird kostbar, der Zufall bestimmt die Dramaturgie. Die Filme gewähren ungeahnte Einblicke in das Leben: in die Arbeits- und Gefühlswelt junger Näher:innen der berüchtigten Sweatshops (Youth (Spring)), die zwischen dem Sound ratternder Nähmaschinen lachen, leiden und flirten. Einblicke in den kindlichen Alltag dreier Schwestern in einem abgelegenen Bergdorf (Three Sisters) oder behutsame Annäherung an einen modernen Komponisten über seinen vom Leben gezeichneten Körper (Man in Black). Ein humanistisches Kino der Beobachtung von fesselnder Intimität und Unmittelbarkeit. Am 13. Juni ist Wang Bing im Stadtkino zu Gast.
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WANG BING: GEFÜHLVOLL RADIKAL
Wang Bing ist eine herausragende Figur des zeitgenössischen Kinos und, in jeder Hinsicht, ein Einzelgänger. Seine Dokumentarfilme werden auf Festivals vielfach ausgezeichnet, wichtige Institutionen wie die Tate Modern oder das Centre Georges Pompidou widmen ihm Werkschauen. Und doch ist der Funkenregen grosser Bühnen das Letzte, was ihn bewegt. Was den zweifelsfrei wichtigsten Dokumentaristen der Volksrepublik China interessiert, ist nur eines: sein nächster Film.
Wang, der 1967 in Xi’an geboren wurde, zunächst Fotografie studierte und schliesslich in der Kameraklasse an der Beijing Film Academy unterkam, wollte sich dennoch nicht in den erfolgreichen Mediensektor Chinas der letzten Jahre integrieren. Er realisiert seine Filme mit kleinem Budget abseits und unabhängig von der unter rigider staatlicher Kontrolle stehenden Filmindustrie und arbeitet mit einem minimalen Team, oft sogar alleine am Set, um sich grösstmögliche Autonomie und Spontaneität zu bewahren. Seine dokumentarische Methode, das reine Beobachten ohne Regieeingriffe, ohne Kommentar und (mit wenigen Ausnahmen) ohne Interviews, steht in der Tradition des Direct cinema. Vergleiche mit den Begründern dieser dokumentarischen Methode aus den Sechzigerjahren und vor allem mit dem US-amerikanischen Filmemacher Frederick Wiseman, der seit einem halben Jahrhundert so arbeitet, sind deshalb häufig. Und doch bestehen erhebliche Unterschiede zu diesen Autoren, und es wundert nicht, dass Bing, nach Vorbildern befragt, häufig Antonioni oder Tarkowski erwähnt, Regisseure, die – wenn auch im Spielfilm – genauso wie er grossen Wert auf die innere Dramaturgie einer Einstellung legten und Figuren mit ihren Gefühlen immer auch über ihre Beziehung zum Handlungsraum erzählten.
Schon sein erster Film, der in drei Teilen konzipierte West of the Tracks (Tie Xi Qu, 2002), der vom Niedergang der Schwerindustrie im Nordosten Chinas berichtet, schöpft bereits Kraft aus dem Amalgam aus Protagonisten und Raum: Der Ort der Handlung hat immer auch eine psychologische und seelische Dimension. Das Schicksal der Menschen, die am gern besungenen und tatsächlich phänomenalen wirtschaftlichen Aufstieg Chinas nicht oder nur zum Teil partizipieren konnten, steht bis heute bei ihm im Fokus. So begleitet auch der letztes Jahr für die Goldene Palme in Cannes nominierte Youth (Spring) (2023) während fünf Jahren jugendliche Wanderarbeiter:innen der chinesischen Textilindustrie. Die schäbigen Produktionsstätten und die noch schäbigeren Werkswohnungen, die uns fremd sind und doch durch die Beharrlichkeit der Kamera an Vertrautheit gewinnen, werden zu einer Lebensbühne, die ebenso natürlich wie schauderhaft ist. In diesen gleichzeitig realen und filmischen Räumen wird hart gearbeitet, gelitten, gestritten, um mehr Lohn gekämpft, doch auch herumgealbert, gelacht, geflirtet und gegen die Resignation gekämpft. Genauso ist das bitterarme Dorf im Yunnan-Gebiet mit seinen verschlammten Strassen und Schweineställen, der schäbigen Behausung, an dessen offener Feuerstelle die kindlichen Protagonistinnen von Three Sisters (2010) ihre klammen Schuhe trocknen, nicht nur Bild des Schreckens, sondern für Wang auch ein natürliches Ambiente der «gelebten Erfahrung der Existenz der Mädchen».
Wang sucht die Nähe zu seinen Protagonist: innen (für Three Sisters lebte er Monate im Dorf unter Verhältnissen, die ähnlich waren wie die im Film dargestellten), will sich von ihnen überraschen lassen, wartet darauf, dass ihr Leben die Geschichte von selbst entwickelt.
Als Zuschauer:in kann man sich von dieser Nähe anziehen lassen, in eine Alltäglichkeit eintauchen, die unmittelbar ist und ohne Bevormundung, ohne musikalische Untermalung oder rhetorische Montage auskommt und Raum lässt, die eigene Reaktion auf diese Unmittelbarkeit zu ergründen.
Bing passt den filmischen Rhythmus Geschehen, Blickwinkel und Kamerabewegungen der Handlungsentfaltung an, und seine Tonspur bedient sich fast nur der realen Klangwelt – in Youth (Spring) rattern unablässig Nähmaschinen oder es plärrt laute chinesische Popmusik, welche die Arbeiter:innen beim Arbeiten im Akkord hören. Trotz dieses Aufgehens im Geschehen, dieser teilnehmenden Beobachtung, die den Regisseur fast zum Verschwinden bringen, ist Wangs Präsenz dennoch spürbar, denn sein neutraler und doch staunender Blick ist nicht der eines Protagonisten. Manchmal, selten (!), schauen seine Figuren auch mal in die Kamera oder richten sogar ein Wort an ihn, was in der Montage stehen gelassen wird: Puristen des Direct cinema würden das herausschneiden, um die vermeintlich intakte «nicht filmische» Welt mit einem solchen Verweis auf das Filmteam nicht zu zerstören. Doch für Wang entscheidend sind nicht die ideologischen Ästhetiktheorien, sondern seine humanistische Haltung.
Eine solche erlaubt es ihm auch, die Balance zu finden zwischen dem stets etwas voyeuristischen Bedürfnis des Filmemachens und dem Respekt vor der Würde einer Sterbenden und ihrer anwesenden Familie: So in Mrs. Fang (2017), das in Locarno mit dem Goldenen Leoparden bedachte Porträt einer an Alzheimer erkrankten Greisin, das oft minutenlange Grossaufnahmen ihres regungslosen Gesichts mit Bildern anderer Familienmitglieder alterniert, die mal trauern, sich mal über Alltägliches unterhalten und manchmal fischen gehen. Solche Schnittfolgen scheinen bei Wang nie erzählerisches Kalkül, sondern sind der Wunderlichkeit des Lebenden und des Vergänglichen geschuldet, die bereits so in die Realität eingeschrieben sind und denen Wang Bing mit gefühlvoller und zugleich radikaler Offenheit begegnet.
Besonders in solchen Montagefolgen ist eine Differenz zu Frederick Wiseman und anderen Verfechtern des Direct cinema zu spüren. Während bei Letzteren zunächst zufällig erscheinende filmische Beobachtungen sich in der Folge zu einem logischen, rhetorischen Mosaik zusammenfügen, in dem einzelne Szenen ganz klar mit anderen in ein dialektisches Verhältnis treten, spielen solche übergeordneten dramaturgische Strukturen bei Wang eine untergeordnete Rolle. Bei ihm triumphieren der Moment, der auch mal zehn Minuten ungeschnitten eingefangen wird, der affektive Rhythmus, eine Dramaturgie des Zufalls und der Überraschungen. Wie undogmatisch Wang ist, zeigt sich allerdings auch darin, dass er seinen Stil neu konzipieren und die Zuschauenden mit einer gänzlich anderen filmischen Anordnung überraschen kann. In Man in Black (2023) etwa inszeniert er den 86-jährigen modernen Komponisten Wang Xilin nackt auf der Bühne des historischen Théatre des Bouffes du Nord in Paris. In der ersten halben Stunde fährt die Kamera um seinen vom Leben gezeichneten Körper, in der zweiten berichtet der Komponist von seiner Verfolgung während der Kulturrevolution; Erzählung, die wiederholt von Ausschnitten aus seinen eigenen Symphonien übertönt wird.
Wang Bing schafft so ein humanistisches Kino, und dennoch wird eines klar: Obwohl er weit davon entfernt ist, dokumentarische «message pictures» zu drehen, ist er eindeutig ein politischer Filmemacher. Ein scharfsinniger und unerbittlicher Chronist der Wunden der Volksrepublik, sei es, wenn es um Opfer vergangener kommunistischen Säuberungsaktionen, sei es, wenn es um Verlierer des spektakulären heutigen Wirtschaftsbooms oder unhaltbare Zustände in einer psychiatrischen Anstalt (Feng Ai, 2013) geht. Sein Werk ist ein audiovisuelles Archiv volksrepublikanischer Gegenwart und Geschichte, das hoffentlich eines Tages auch von der einheimischen Bevölkerung genutzt werden kann.
Till Brockmann unterrichtet als Filmwissenschaftler an diversen Hochschulen. Er ist zudem Kurator, Filmkritiker sowie Leiter der Semaine de la Critique am Locarno Film Festival.
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