SINGING AND DANCING
Vom restaurierten Les parapluies de Cherbourg in leuchtenden Farben zu einer kleinen Geschichte des Musicals! Bei Jacques Demy wird nicht nur getanzt und gesungen – jede Dialogzeile wird zu einem musikalischen Erlebnis, jede Bewegung zur Choreografie. Demys Kino spielt zwar in poetischen Zwischenwelten, verhandelt in den leichten Liebesgeschichten, mit Anleihen beim US-Musical und Melodrama, aber auch Geschlechterfragen und Spannungen zwischen Klassen. Demys Vorliebe für amerikanische Genre-Filme galt insbesondere den Musicals von Vincente Minnelli und Stanley Donen. Wir zeigen eine Reihe von Demys Werken, so etwa Une chambre en ville und Les Demoiselles de Rochefort zusammen mit Filmen, die man in einer engen Verbindung mit dem Schaffen des französischen Filmregisseurs sehen kann. Darunter Klassiker wie Singin’ in the Rain, West Side Story und Grease bis hin zu Chazelles Filmmusical La La Land. Bei diesen musikgeladenen Filmen wird das Sitzen zur Herausforderung!
mehrDamien Chazelle, der sich mit aufwändigen Musik- und Musical-Produktionen wie Whiplash (2014) und La La Land (2016) einen Namen gemacht hat, ist bekennender Fan von Jacques Demy. Über Les parapluies de Cherbourg (1964) sagt er: «Wenn wir irgendwann mit Ausserirdischen in Kontakt kommen und sie uns fragen: Was ist Kino? Könnt ihr es uns erklären? Dann würde ich diesen Film wählen, um es ihnen zu erklären.» Anstatt einen Film für alle anderen stehen zu lassen, möchte unsere Reihe – gleichsam aus umgekehrter Denkrichtung – das Demy- Universum über das Netzwerk seiner Seelenverwandten erfahrbar machen. Dabei geht es weniger um historisch verbriefte Einflussnahmen in seiner Filmarbeit als vielmehr darum, seine Filme innerhalb eines Kräftefelds von Gleichgesinnten zu betrachten.
Bekannt wurde Demy in den 1960er-Jahren mit seinen traurig-schönen Musicals, in denen Leichtigkeit und Schwere, Freude und Melancholie auf intime Weise miteinander verflochten sind. Seine Filme setzen häufig an unscheinbaren fait divers an – eine Liebesgeschichte, die Rückkehr in die alte Heimat, der Besuch der Schausteller:innen in der Stadt. Diese vermeintlich ‹banalen› Geschichten entfalten indes ein ganz eigenes Universum, das häufig als ‹demy-monde› beschrieben wird. Filmsprachlich schöpfen sie aus dem Vollen: Da ist die désinvolture einer tänzelnden Kamera, die uns durch ein Arrangement von Körpern, Bewegungen und Räumen führt, da ist das intensive Spiel aus Farben und Musik, das eigene Schauwerte, aber auch Dissonanzen und Konflikte zu entfalten vermag. Atmosphärisch scheinen alle Filme von Demy in einer ‹Zwischenwelt› (so das Wortspiel, von frz. demi-monde für ‹Halbwelt›) anzusiedeln, im flirrenden Abstand zwischen Hier und Anderswo, Wirklichkeit und Traum.
Seine ersten Spielfilme dreht Demy im Frankreich der frühen 1960er-Jahren, einer Zeit, die von der Nouvelle Vague geprägt ist. Damals frequentiert auch Demy den Zirkel der jungen Filmemacher:innen und -kritiker:innen um die Cahiers du Cinéma, ohne direkt dazuzugehören. Während Truffaut und Godard Gangsterfilm und Film Noir zitieren, knüpft Demy an Melodrama, Musical und Märchen an.
Unübersehbar bezieht sich sein ‹cinema enchanté›, wie Demy sein gesungenes und ‹verzaubertes› (von frz. enchanté) Kino bezeichnet, auf das US-amerikanische Filmmusical. Es setzt ebenfalls auf die affizierende Wirkung von Gesang, Musik und Tanz sowie auf eine Farbgestaltung, die Hollywoods Technicolor-Welten aufruft. Besonders offen spielt Demy diese Bezüge in Les demoiselles de Rochefort (1967) aus: In der Eröffnungssequenz filmt eine schwebende Kamera die Ankunft der Matrosen und Schausteller: innen in ornamentalen Mustern, die an die revuehaften Girls-Choreografien von Busby Berkeley in Filmen wie 42nd Street (1933) oder Footlight Parade (1933) erinnern. Im Laufe des Films lässt Demy die Musical-Ikone Gene Kelly auftreten – scheinbar nahtlos scheint Kelly seine Rolle aus An American in Paris (1951) weiterzuspielen.
Sosehr Demys Filme die Grundprinzipien des Musicals zitieren und zelebrieren, so sehr radikalisieren und verschieben sie diese zugleich. Während klassische Musicals über die Gegenüberstellung von handlungstragenden Szenen und Tanz-und Gesangsnummern funktionieren, werden bei Demy jede Dialogzeile gesungen und jede alltägliche Bewegung choreografiert. Das Tanzen und Singen weitet sich – ähnlich wie schon in Singin’ in the Rain (1952) oder Funny Face (1957) – raumgreifend über gesamte Innenräume, Strassen und Städte aus.
Zu Demys Bearbeitung des Musicals gehört indes auch, dass er den leichtfüssigen Tonfall mit melodramatischen Wendungen und tragischen Untertönen durchmischt. Darin folgt er West Side Story (1961), der von Gewalt, Migration und Strassenkämpfen erzählt, den Traum von einer besseren Gesellschaft jedoch nicht umsetzt, sondern in das von Tony und Maria besungene «someday, somewhere, somehow» verschiebt. Ein ähnlicher Grundgestus des Aufschubs durchzieht Demys Les parapluies de Cherbourg (1964): Im Stil eines Jazz-Musicals (zur Musik von Michel Legrand) erzählt der Film von der unglücklichen Liebesgeschichte zwischen dem Automechaniker Guy und Geneviève, der Tochter der Schirmverkäuferin. Fast schon meteorologisch sind die Übergänge zwischen den Stimmungen und Affekten gestaltet: Wenn der romantische Regen zu Beginn des Films die Räume verdichtet, die Körper der Liebenden unter den Regenschirmen aneinanderrücken lässt und Berührungen wahrscheinlicher macht, geht er später in ein melodramatisches Klima über, in dem Nieselregen die Abschiede begleitet und sich wie ein Tränenschleier über die Gesichter der Figuren legt. In der Schlussszene verdichtet sich der Niederschlag zu dicken, künstlichen Schneeflocken, die beim Wiedersehen der Liebenden am Weihnachtsabend auch die unterkühlt- frostige Distanz markieren, die sich zwischen Guy und Geneviève eingestellt hat.
Hier wird bereits deutlich, dass Demys Eingriffe in die sinnlichen Texturen des Musicals nicht nur dessen Formenrepertoire, sondern auch dessen ideologische Prämissen umarbeiten. Ende der 1980er-Jahre bezeichnet ein Interviewpartner Demy als ‹marxistischen Filmemacher, der Filme im Broadway-Stil inszeniert›. War es möglich, sich die Mittel des Musicals ‹auszuborgen›, ohne sich dessen Ideologie – etwa: die Aufhebung der Wirklichkeit als Eskapismus – einzuhandeln? Tatsächlich artikuliert sich in Demys Filmen eine grosse Sympathie für die ‹kleinen Leute›, die Schausteller:innen, Matrosen, Automechaniker, Friseur:innen und alleinerziehenden Mütter; diese begegnen charismatischen Figuren der Aristokratie oder des Show-Business, die stets etwas gebrochen von ‹besseren Zeiten› erzählen. Fast schon durch die Hintertüre dringen politische und soziale Spannungen in die erzählerischen Konstellationen der Filme ein, artikulieren sich in Liebesbeziehungen und in kontrastreichen Bild-, Farb- oder Musikarrangements. Explizit verhandelt Demy politische Themen in Une chambre en ville (1982), einem Film, der den Strassenkampf von Werftarbeiter:innen als Musical inszeniert und soziale Fragen bis ins Intimste der Figuren, ihr Begehren hineinreichen lässt.
Mit ihrem Hang zum Übertriebenen und ‹Übergeschnappten› wurden Demys Filme auch als Ausdruck einer Camp-Ästhetik gelesen und gelangten in queeren Kreisen zu Kultstatus. Das gilt besonders für den Märchenfilm Peau d’âne (1970). Zwar erzählt der Film vordergründig das Märchen einer Prinzessin, die sich zum Schutz vor dem Begehren ihres Vaters mit einer Eselshaut tarnt; mit der Geschichte einer transgressiven Lust inszeniert der Film auch Begehrenskonstellationen jenseits heterosexueller Ordnungen. Die queere Dimension wird über zahlreiche Verweise auf eine schwule Ästhetik ausgestellt, die im Frankreich der 1960er-Jahre eng mit Jean Cocteau und seinem (im Film mitwirkenden) Partner Jean Marais assoziiert war. So wirkt die Szene aus Peau d’âne, in der Eselshaut den Kuchen backt, auch wie eine Camp-Persiflage der Backszene aus Disneys Snow White and the Seven Dwarves (1937), in der Schneewittchen, umringt von Vögeln und Eichhörnchen, ihren Prinzen besingt. Wenn Demy den Filmstar Catherine Deneuve die Hausarbeit im goldschimmernden Kleid verrichten lässt, pointiert er zugleich die Absurdität der widerstrebenden Erwartungshaltungen an Frauen, schön und fleissig sein zu müssen.
Die Verschiebungen, die Demys Filme in Musical- und Märchenfilm vornehmen, wirken in zahlreichen späteren Bearbeitungen der Genres weiter – so etwa in den postmodernironischen Musicals eines Baz Luhrman oder in Damien Chazelles romantisch-poppigen Musicalfilmen, die ebenfalls die Schauwerte des Überdrehten feiern und das Verhältnis von Rührung und kritischer Distanzierung in neue Mischverhältnisse überführen. Wenn es also – wie von Chazelle erwähnt – darum ginge, Aliens das Kino zu erklären, dann würden sie mit Demys Filmen ein Kino zu sehen bekommen, das sowohl verzaubert als auch irritiert, das berühren und nachdenklich machen möchte.
Kristina Köhler ist Filmwissenschaftlerin und arbeitet an der Universität zu Köln.
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