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Filmreihe

 
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Nuevo Cine Mexicano

Zwischen Fantasie und Wahrheit


Im Neuen Mexikanischen Kino pulsiert das Leben, werden Gegensätze zu Gemeinsamkeiten. Hier treffen Poesie und Alltag, Gewalt und Zärtlichkeit aufeinander. Eröffnet sich zwischen Fantasie und Wahrheit ein bestechender Blick auf ein faszinierendes Land. Wir widmen uns den «Tres Amigos» Alfonso Cuarón, Guillermo del Toro und Alejandro González Iñárritu. Zeigen deren Klassiker, die dem Nuevo Cine Mexicano zum Durchbruch verhalfen, und holen die neuesten Regiearbeiten des Ausnahmetrios zurück auf die Leinwand: ein Kino zwischen Grossstadtepos, Roadmovie und Fantasy-Märchen, zwischen Stop-Motion-Meisterwerk, Filmgedicht in Schwarz-Weiss und surrealer filmischer Selbstfindung. Und präsentieren verheissungsvolle Stimmen wie Claudia Sainte-Luce, Tatiana Huezo, Lila Avilés oder Carlos Reygadas. die mit scharfsinnigen Kammerspielen, sonnendurchfluteten Liebeswestern und subtilen Komödien über das Erwachsenwerden begeistern. Energiegeladenes und kompromissloses Gegenwartskino, das mitreisst.

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Das mexikanische Kino der letzten zwanzig Jahre, bekannt als Nuevo Cine Mexicano, ist nicht denkbar, ohne dass man über Guillermo del Toro, Alonso Cuarón und Alejandro González Iñárritu spricht.

Mit Amores Perros (2000) und Y tu mamá también (2001) sorgten Iñarritu und Cuarón Anfang des neuen Jahrtausends für Aufsehen und festigten den Ruf des neuen mexikanischen Kinos, dessen Anfänge in die Neunzigerjahre zurückreicht. Zur Jahrtausendwende war del Toro bereits durch seine fantastischen Filme bekannt und in Hollywood tätig. Auch Cuarón und Iñarritu schafften den Sprung in das internationale Filmgeschäft. Die drei kennen sich seit den Achtzigerbzw. Neunzigerjahren, unterstützen sich gegenseitig in ihren Projekten und gründeten gemeinsam 2007 ihre Produktionsfirma Cha Cha Chá Producciones. Bekannt als «Los Tres Amigos» kehren sie immer wieder in ihr Heimatland Mexiko zurück.

Guillermo del Toro’s Pinocchio (2022), ein langersehntes Herzensprojekt, entstand teilweise in einem Filmstudio seiner Heimatstadt Guadalajara, nur einen Steinwurf von der Cineteca entfernt, in der der grösste Kinosaal del Toros Namen trägt. Pinocchio ist seine eigene Interpretation des Kinderbuchs, zur Zeit des Faschismus in Italien angesiedelt. Das grandiose Werk ist kein kurzweiliger Kinderfilm, sondern eine düstere Geschichte, die mit eigens komponierten Liedern Anleihen am Musical nimmt. Im klassischen Stop-Motion-Verfahren hergestellt, ist der Film bereits heute ein Klassiker des Animationsfilms und dieses Jahr für den Oscar nominiert.

Iñarritu hat jüngst mit Bardo (2022) eine semiautobiografische, surrealistisch anmutende Tragikomödie inszeniert: Sein Alter Ego, ein mexikanischer Dokumentarfilmer, der zwischen Mexiko und den USA lebt, reflektiert darin über Heimat und Identität. Mit Roma (2018), ebenso autobiografisch geprägt, lenkt Cuarón den Blick auf den inoffiziellen Motor aller lateinamerikanischen Wirtschaften, den informellen Arbeitsmarkt: Die Mixtekin Cleo arbeitet im Haus der wohlhabenden Sofía und hält trotz aller privaten Schicksalsschläge das Leben der Familie zusammen.

So unterschiedlich die Filme der drei sind, gibt es doch ein gemeinsames Vorbild im mexikanischen Kino, den Filmemacher Felipe Cazals. In Canoa (1976) erzählt Cazals ein auf Tatsachen basierendes, blutiges Ereignis in einem Dorf in der Nähe von Puebla. Zur Zeit der Student:innenproteste im Jahr 1968, kurz vor der Eröffnung der Sommerolympiade im Land, planen fünf Mitarbeiter einer öffentlichen Universität in Puebla, das verlängerte Wochenende mit einer Wanderung auf einen Berg nahe dem Dorf San Miguel Canoa zu verbringen. Sie werden für kommunistische Studenten gehalten, womit die Geschichte ihren brutalen Verlauf nimmt. Cazals erzählt mit einem nahezu dokumentarischen Ansatz von den Geschehnissen im Dorf, was als seine Art der Kritik an der blutigen Niederschlagung der Student:innenunruhen in Mexiko-Stadt, bekannt als Massaker von Tlatelolco, verstanden werden kann. Diese Form der distanzierten Betrachtung führt Cuarón in seinem Film Y tu mamá también (2001) fort. Ein Voice-over kommentiert das Roadmovie über Tenoch und Julio, zwei Heranwachsende, die gemeinsam mit der attraktiven Spanierin Luisa aus Mexiko-Stadt zur pazifischen Küste aufbrechen. Y tu mamá también handelt vom Erwachsenwerden, von Sexualität, Klassenunterschieden und einer diffusen Unsicherheit im Land – Elemente, die in den Filmen der jüngeren Regisseur:innen Mexikos weiter ausgearbeitet werden.

Ihre Filme bieten keine bonbonfarbenen Bilder, wie sie allabendlich in den mexikanischen Telenovelas zu sehen sind, die sich in ganz Lateinamerika grosser Beliebtheit erfreuen. Sie versuchen auch nicht z.B. Iñarritus Amores Perros (2000) zu imitieren, der noch am ehesten Anleihen an der Telenovela nimmt, allerdings nur, um sie ästhetisch in ihr Gegenteil zu verwandeln. Mit schnellen Schnitten, Rockmusik und aussergewöhnlichen Ereignissen schafft er ein an Pulp Fiction (1994) angelehntes Epos.

Das Faszinierende an den Filmen der jüngsten Generation liegt in der detaillierten Darstellung des oft unspektakulär anmutenden Alltags. Dieser ist von – aus europäischer Sicht schwer nachvollziehbaren – alltäglichen Erfahrungen mit Gewalt und Machismo geprägt. Das Fehlen des Vaters ist ein Motiv, das sich in vielen Filmen wiederfindet: Roma, Güeros (2014), Temporada de patos (2004) oder Noche de fuego (2021). Das Leben und die Ängste einer alleinerziehenden Mutter im ländlichen Mexiko schildert die salvadorianische Regisseurin Tatiana Huezo, die in Mexiko ihre künstlerische Heimat hat. Huezo lenkt mit Noche de Fuego den Blick auf den jüngsten Teil der mexikanischen Geschichte, der spätestens seit 2006 ein neues Trauma im Land erzeugt. Im Kampf gegen die Drogenkartelle haben bereits mehr als 350'000 Menschen ihr Leben verloren. Dazu gesellen sich staatliche Gewalt durch Polizei und Militär, hohe Korruption und das unbekannte Schicksal von mehr als hunderttausend Verschwundenen, sogenannte «desaparecidos».

Gewalt ist nicht vom Klassismus der mexikanischen Gesellschaft zu trennen. Die vor sich hin brodelnde soziale Ungleichheit ist zu jeder Zeit im Land und in den Filmen spürbar. Verbunden ist damit der american dream, eine bessere und sicherere Zukunft für sich und seine Familie in den Vereinigten Staaten zu finden. La jaula de Oro (2013) von Diego Quemada-Díez erweitert den allerorts in Mexiko anzutreffenden Wunsch auf den zentralamerikanischen Raum, der allerdings auch weit nach Südamerika hineinreicht. Juan, Sara, Samuel aus Guatemala und Chauk, ein Tzotzil aus dem Hochland Chiapas, erleben auf ihrer Flucht in die USA Tag ein, Tag aus, was es heisst, nicht zu wissen, wer Feind oder Freund ist.

Das neue mexikanische Kino bietet jedoch weit mehr als nur die Auseinandersetzung mit der Gewalt. Seine Geschichten leben von der Beobachtung der Dinge, Personen und Situationen, mit der die mexikanische Gesellschaft mal nachdenklich- philosophisch, mal lakonisch-komisch analysiert wird. In beeindruckend-berauschenden Bildern und Tönen geht Carlos Reygades in Nuestro Tiempo (2018) der Frage nach der Belastbarkeit und den Grenzen der Liebe nach. Reygades gehört in eine Reihe mit den drei Amigos, seine Filmästhetik unterscheidet sich jedoch radikal von ihnen. Man muss seine Filme im wahrsten Sinne abwarten und fühlen, wie die Anfangssequenz in Nuestro Tiempo zeigt: vom ausgedehnten ungezwungenen Spiel der Kinder über flirtende Jugendliche nähert sich der Film langsam den Beziehungsproblemen der Erwachsenen. Von Freundschaft zwischen Erwachsenen, Familie, Kindern und Müttern handelt Claudia Sainte- Luces berührendes Filmdrama Los insólitos peces gato (2013), das in Guadalajara spielt, der Zufluchtsort vieler Mexikaner:innen, denen Mexiko-Stadt über den Kopf gewachsen ist. Der Film zeichnet eine innige Freundschaft zwischen zwei Frauen nach, die zu Tränen rührt: zu keinem Zeitpunkt kitschig, sondern immer nah am Leben.

Im Gegensatz zu Reygades und Sainte- Luce konzentrieren sich Alonso Ruizpalacios in seinem Film Güeros und Fernando Eimbcke in Temporada de patos ganz auf das Gefühlsleben von Jugendlichen und Kindern, mit skurriler Bildsprache und viel trockenem, lakonischem Humor. Ein Streik an der Uni in Mexiko-Stadt ist Dreh- und Angelpunkt von Ruizpalacios’ Coming-of-Age-Road-Movie-Komödie, in der auch einfach mal der Film selbst zum Thema wird. Wie Güeros ist auch Temporada de patos in Schwarz-Weiss gehalten, ergründet mit ästhetischem Minimalismus die Probleme seiner Protagonist: innen auf engstem Raum, im Wohnzimmer und in der Küche.

In Y tu mama tambien ruft Luisa begeistert, dass Mexiko an allen Seiten Leben atmet. Das mexikanische Kino der letzten zwanzig Jahre zeichnet ein nachdenkliches Bild des Landes. Aber Luisa hat auch recht, es sprüht vor Kreativität und Leben.

 

Wolfgang Fuhrmann ist Filmwissenschaftler. Er lebt zurzeit in Lateinamerika, zwischen Medellín und Guadalajara, wo er zum lateinamerikanischen Kino forscht.

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