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Filmreihe

 
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Napoletani

Lebens-Geschichten


Neapel war und ist eine Stadt wie gemacht für das Kino! Das Stadtkino Basel präsentiert zusammen mit dem S AM Schweizerisches Architekturmuseum einen besonderen Blick auf diese lebendige Stadt. Das von Salvatore Aprea und Barbara Tirone kuratierte Programm zeigt die Menschen, die Neapel ausmachen, und lässt uns den aussergewöhnlichen Ort durch die Augen und Gefühle der Protagonist:innen erkunden. Denn wer kann eine Stadt besser nahebringen als die Einwohner:innen selbst? Und so entführen die Filme über die Napoletani in Liebes- und Familiengefüge innerhalb und jenseits der Norm, zeigen die Faszination Neapels auf, die Künstler:innen immer wieder als Inspirationsquelle dient, und geben Einblick in eine Gesellschaft, die viel über das Leben damals wie heute erzählt – auch weit über die Stadtgrenzen hinaus. Die Reihe ist anlässlich der vom Pariser Büro LAN kuratierten Ausstellung Napoli Super Modern (12.05 – 21.08.2022) des S AM konzipiert worden. Das Filmprogramm stammt aus einer Kollaboration zwischen dem S AM, der Ecole polytechnique fédérale de Lausanne, der Maison de l’Architecture in Genf und dem Stadtkino Basel.   

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Neapel mit den Augen der Neapolitaner:innen zu sehen und seine Eigenheiten wahrzunehmen, das bedeutet: seine Schönheit, seine Schwierigkeiten des Alltagslebens, sein ungezähmtes Wesen und seinen Zynismus, aber auch die Grosszügigkeit, das Geniessertum und einen gewissen Stoizismus zu erleben, der manchmal zu Resignation und Trägheit neigt. In der Tat haben die Stadt Neapel und ihre Einwohner:innen eine besondere Beziehung zu allen Formen des künstlerischen Ausdrucks entwickelt, die die psychologische und soziale Natur der Menschen, ihre Gefühle und Geschichten ebenso wie die Dramen des individuellen und kollektiven Lebens untersuchen.    

 

Das gilt für die Literatur, die Musik, das Theater und seit dem Beginn des 20. Jahrhundert auch für das Kino. Die Neapolitaner:innen beobachten beharrlich und unverblümt die Menschen und vor allem sich selbst. Es ist daher nicht überraschend, dass die erste Kinovorführung in Neapel bereits 1896 stattfand, nur ein Jahr nachdem die Brüder Lumière ihr Patent angemeldet hatten. Das neapolitanische Kino erlebte damals gleich eine Blütezeit. Die ersten Filme waren vom starken Realismus geprägt und werden heute dem Verismus zugerechnet. Autor:innen, Regisseur:innen und Produzent:innen liessen sich vom Alltagsleben, aber auch von Ritualen aus der volkstümlichen Tradition inspirieren. Zwei Jahrzehnte später, zur Zeit des Faschismus wurde dieser Verismus durch die Zensur unterbunden: Es folgte ein Verbot des Dialekts und aller Produktionen, die soziale und wirtschaftliche Schwierigkeiten zeigten. Das Kino hatte lediglich die Aufgabe, das Publikum zu unterhalten und Propaganda für das faschistische Regime zu betreiben. Dagegen blühten die Literatur und das Theater auf. Ein Name sticht dabei besonders hervor: Eduardo De Filippo. Als Autor, Regisseur und Theaterschauspieler erforschte er die Psychologie des Individuums und deren Spiegelung im sozialen Verhalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte das neapolitanische Kino einen erneuten Aufschwung. Im Zuge der Lehren des Neorealismus befassten sich einige neapolitanische Autor:innen seit den 1950ern mit der Modernisierung der Stadt und der organisierten Kriminalität. Ein prominentes Beispiel ist Le mani sulla città von Francesco Rosi (1963), der in Ausschnitten im S AM zu sehen ist. Daneben zeichnete es sich durch Gesellschaftsstudien in erfolgreichen Theater- und Literaturverfilmungen aus.    

Das Programm Napoletani. Lebens-Geschichten befasst sich mit einer neuen, in den 1980er-Jahren einsetzenden Filmrichtung, die zwar einen realistischen Hintergrund beibehält und sich auf die Alltagswirklichkeit und die Gesellschaft stützt, sich aber stärker auf die psychologischen Züge der Filmfiguren konzentriert. So begannen vielfach ausgezeichnete Filmschaffende wie der junge Autor, Regisseur und Filmschauspieler Massimo Troisi teils skurrile, immer aber präzise Portraits von Individuen des 20. Jahrhunderts mit all ihren Unsicherheiten, Zweifeln und Sorgen zu zeichnen. Die zehn ausgewählten Werke des Programms beleuchten aus verschiedenen Blickwinkeln Liebes- und Familiengefüge, Verbindungen zwischen den Künsten und Gesellschaftsstrukturen. Troisis Pensavo fosse amore e invece era un calesse(1991) befasst sich mit der Konstruktion von Liebe und Familie in der heutigen Gesellschaft. Ergreifende neapolitanische Musik, die ausdrucksstarken, prächtigen Kulissen vom Borgo Marinari und Castel dell’Ovo verstärken das Pathos dieser Geschichte. In Rückblenden und Ellipsen ergründet Lacci (2020) von Daniele Lucchetti nach einem Roman des neapolitanischen Schriftstellers Domenico Starnone, wie gesellschaftliche Konventionen eine Familie zu erdrücken drohen und die Flucht in Untreue erklären.    

Die Familie, die Ehe, die Kinder, die Norm und die Ausnahme sind in der neapolitanischen Gesellschaft sehr präsent und können als Lackmustest für das Verständnis psychologischer und sozialer Probleme im weiteren Sinne dienen. Wir entdecken dies anhand zweier sehr unterschiedlicher Dramen, die jedoch zahlreiche Berührungspunkte aufweisen: L'amore molesto (1995) von Mario Martone, nach dem gleichnamigen Roman von Elena Ferrante, und Matrimonio all'italiana (1964) von Vittorio De Sica (ein Ausflug in eine frühere Strömung) nach De Filippos Theaterstück Filumena Marturano. Der Armut überdrüssig, gibt Filumena den Verlockungen eines wirtschaftlich komfortableren Lebens nach, das ihr die Prostitution bieten kann. Doch als alleinerziehende Mutter dreier Kinder verfolgt sie hartnäckig das Projekt eines normalen Lebens, einer Ehe, die Ehre und Respekt wiederherstellen kann. Sie wird ihr Ziel erreichen, auch wenn nur dank eines gut gehüteten Geheimnisses. Delia hingegen, die Protagonistin von L'amore molesto, lebt eine Normalität, die auf Schein beruht. Doch das Leben zwingt sie dazu, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und Traumata zu verarbeiten, von denen Delia dachte, sie seien überwunden.    

Neben diesen psychologischen und sozialen Aspekten zeugen die beiden Filme auch von der engen Verbindung zwischen neapolitanischem Kino, Literatur und Theater. Eine Verbindung, die sich in vielen Formen manifestiert, unter anderem in dem starken Interesse, das viele Dichter an Neapel und seinen umliegenden Landschaften haben, die in Il giovane favoloso (2014) von Martone und Il Postino (1994) von Troisi eindrucksvoll in Szene gesetzt sind. So schreibt sich etwa die heitere Weisheit des Dichters der Liebe, Pablo Neruda, in die herrliche Landschaft der Insel Procida ein, wo er einem jungen, naiven Postboten die Magie der Poesie näherbringt. Die gequälte Seele, der rebellische Poet Giacomo Leopardi in Il giovane favoloso wandert hingegen durch die Gassen, Tavernen und Bordelle des von der Cholera heimgesuchten plebejischen Neapels, bis er auf den Hängen des Vesuvs Zuflucht findet und überwältigt ist von den weiten Landschaften, die den Golf überblicken.  

Auch in der Gegenwart spielen Familie, Neurosen und schwierige Verhältnisse zu Kindern eine tragende Rolle. Die Dramen in Ultras (2020) von Francesco Lettieri und La tenerezza (2017) von Gianni Amelio manifestieren sich in unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen. Ultras zeigt die Geschichte eines Hooligans, hinter dessen rüdem Äusseren sich ein zerbrechlicher Mensch verbirgt – auf dem Hintergrund der vulkanischen Phlegräischen Felder, die die Vergangenheit der griechischen Mythen mit der Gegenwart verbinden. Die gleiche Zerbrechlichkeit findet sich auch in der von Amelio dargestellten bürgerlichen Familie um den einsamen Lorenzo, einem Rechtsanwalt im Ruhestand, der im Stadtzentrum von Neapel wohnt und sein Leben Revue passieren lässt.  

Zwei unterschiedliche soziale Gefüge stehen in Un complicato intrigo di donne, vicoli e delitti (1986) von Lina Wertmüller und È stato la mano di Dio (2021) von Paolo Sorrentino ebenfalls im Mittelpunkt. Ersterer ist eine Rückblende in die 1980er-Jahre, in der es die Jugend aus den Armenviertelen der alten Stadt zu entdecken gilt, die der Camorra und ihrem Drogenhandel ausgeliefert ist, während wir in È stato la mano di Dio die Jugend der Mittelschicht entdecken, die von ihrem eigenen Wohlstand überwältigt ist und aus dem sie fliehen muss, um ihre eigene Persönlichkeit zu behaupten. Wie der Titel von Wertmüllers Film schon andeutet, sind die Gassen der Altstadt verwinkelt wie die Geschichten, die sie beherbergen. Sorrentinos Kleinbürgertum hingegen wohnt im modernen Viertel Fuorigrotta, im Schatten des Fussballstadions und damit des Mythos Maradona. Seine künstlerische Berufung und Befreiung findet Sorrentinos Protagonist jedoch beim historischen Palazzo Donn'Anna, der ins offene, weite Meer ragt. Neapel und die Neapolitani inspirieren zu grosser Kunst – die sich mit den Filmen dieser Reihe entdecken lässt.  

 

Salvatore Aprea ist Architekt und Architekturhistoriker. Er promovierte in Baugeschichte an der Ecole Polytechnique Fédérale in Lausanne, wo er als Wissenschaftler und Kurator der Archives de la construction moderne tätig ist. Er hat mehrere Aufsätze, Bücher und Zeitschriften über die Geschichte des Betons veröffentlicht.  

 

Barbara Tirone ist assoziierte Architektin bei A Architect in Genf sowie Infrastrukturmanagerin und Dozentin an der ENAC-Fakultät der EPFL. Sie ist eine der Gründer:innen des Maison de l’Architecture und der Association Pavillon Sicliin Genf, die sie beide seit 2019 präsidiert.   

 

Wir danken Salvatore Aprea und Barbara Tirone für die Kuration der Reihe und dem S AM Schweizerisches Architekturmuseum für die Kooperation sowie der CinéCittà für die Zurverfügungstellung der Filmkopien.

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