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Filmreihe

 
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Kate Winslet

Die Unerschrockene


Alles oder nichts! Ob als ungestüme Adelstochter in der Jane-Austen-Verfilmung (Sense and Sensibility), inspirierende Wissenschaftspionierin des 19. Jahrhunderts (Ammonite), rebellische Ehefrau im amerikanischen Suburbia der 50er-Jahre (Revolutionary Road) oder jüngst als hartnäckige Polizistin mit Gerechtigkeitsdrang (Mare of Easttown): Kate Winslet, die schon lange mit den grossen Filmschaffenden der Gegenwart dreht, unterläuft lustvoll und mit unerschrockener Präsenz die Geschlechterklischees. Sie spielt Kämpferinnen mit Ecken und Kanten, so virtuos wie feinsinnig, mit vollem Körpereinsatz, geballter Energie und unwiderstehlichem Charme – dabei nahbar, herausfordernd und mitreissend. Die Suche nach sich selbst, nach Selbstbestimmung oder der grossen Liebe verschlägt Winslets Figuren vom spirituellen Indientrip in das australische Outback, in das Hippie-Dasein im hitzigen Marrakesch und an schroffe englische Küstenlandschaften: Kinoabenteuer, die mit Winslet zum unvergesslichen Erlebnis werden. Das Stadtkino widmet sich einer der grossen Charakterdarstellerinnen unserer Zeit!  

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Einen Moment lang kann sie sich noch zurückhalten. Doch dann platzt es förmlich aus Nancy Cowan (Kate Winselt) heraus. Alles auf einmal, in einem Schwall: Es ist der ganze Apfelauflauf, mit dem ihre Gastgeber, das Ehepaar Longstreet (Jodi Foster, John C. Reilly), die aufgewühlte Anlageberaterin und ihren Juristen-Mann (Christoph Waltz) eben noch bewirtet haben. Denn eigentlich sind die Cowans bei den Eltern eines Schulkameraden ihres Sohnes zu Besuch, um Frieden zu stiften, nachdem ihr Junge dem anderen Kind im Park zwei Zähne ausgeschlagen hat. Und eigentlich hatten sich die Wogen gerade geglättet. Aber jetzt ist nicht nur die Stimmung dahin. Auch die auf dem Kaffeetisch im Wohnzimmer ausgestellten Kunstkataloge sind ruiniert. Kate Winslet, die nach ihrem Ausbruch schauspielerischer Perfektion sichtlich mitgenommen in den Sessel sinkt, hat wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Wie so oft.   

 

Es ist vielleicht nicht der eleganteste Auftritt, mit dem die am 5. Oktober 1975 im beschaulichen Reading im Südosten Englands geborene Britin in Roman Polanskis Carnage (2011) die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Doch mit Umschreibungen, die einer feinen Dame entsprechen, kommt man bei ihr sowieso nicht weit. Denn Winslet ist nicht der Typ für harmlose Kaffeekränzchen mit süssem Gebäck. Ein rebellierender Charme bestimmt ihr Gemüt. Selbst in Ang Lees preisgekrönter Historienverfilmung des Jane-Austen-Klassikers Sense and Sensibility (1995) übernahm sie deshalb einst die Rolle der ungestümen Dashwood-Tochter Marianne, die sich bei der Gattenwahl jenseits aller gängigen Konventionen ganz und gar von ihren leidenschaftlichen Gefühlen leiten lässt.   

 

Winslet ist die Richtige, immer wenn es um Charakterrollen und Problemfiguren, Kämpferinnen und Überlebensstrateginnen geht. Oft sind es Frauen, die sich behaupten müssen, wie die hartnäckige Polizistin in der HBO-Krimiserie Mare of Easttown (2021), die einen Mordfall aufzuklären versucht, während ihr das eigene Leben immer mehr zu entgleiten droht. Oder solche, die noch eine Rechnung offen haben, wie die unkonventionelle Schneiderin Tilly Dunnage, die in Jocelyn Moorhouses warmherziger Tragikomödie The Dressmaker (2015) mit extravaganten Outfits in ihren Heimatort in der australischen Wüste zurückkehrt, aus dem sie als Kind zu Unrecht vertrieben wurde. Und auch, dass sich manchmal Schmutz und Sand unter ihren Fingernägeln staut, wie bei der autodidaktischen Paläontologin Mary Anning in Ammonite (2020), gehört dazu. Denn für die Schauspielerin, die in ihren Rollen lustvoll hartnäckig Geschlechterklischees unterwandert, geht es immer ums Ganze, um Authentizität, um alles oder nichts. Sie nimmt ihre Figuren mit allen Macken und Makeln, aber auch mit sämtlichen Anstrengungen und Krisen, Rückschlägen und Fehltritten, die sie zu bewältigen haben. Ihr Prinzip ist simpel, der eigene Anspruch enorm: Es komme darauf an, sagt sie, mehr als nur authentisch zu erscheinen - nicht einfach zu spielen, sondern einfach zu sein.   

 

Mit dieser Methode, stets das Menschliche ihrer Figuren in den Mittelpunkt zu stellen, hat sich Winslet konsequent nach vorne gearbeitet seit sie 1994 in Heavenly Creatures von Peter Jackson ihre Karriere vor der Kamera begann. Als der Film gedreht wurde, war sie keine siebzehn Jahre alt. Sie verkörpert darin eine Schülerin, die im Neuseeland der Fünfzigerjahre gemeinsam mit ihrer Freundin deren Mutter umbringt. Aber damit nicht genug. Denn die Aufregung, die sie damals mit ihrer Rolle entfachte, drehte sich vielmehr um die Tatsache, dass die beiden Mädchen im Film einander lieben - auch körperlich. Für Winslet, jung und freigeistig im Schoss einer Schauspielfamilie erzogen, ergab sich daraus keine Besonderheit, für Medien und Publikum jedoch offenbar schon. Auf die Frage, wie es sich anfühle, ein lesbisches Mädchen zu spielen, reagierte sie dementsprechend verstört: «Es war ein Übergriff auf meine Körperlichkeit und Privatheit», erinnerte sich die seither bewusst fernab vom Pressetrubel lebendende Schauspielerin unlängst in einem Interview mit der Zeit. «Ich wusste gar nicht, was ich antworten sollte. Ich dachte nur, dass es eine seltsame Frage war.»   

 

Doch sprachlos sollte sie nicht bleiben. Seit ihrem prägenden Debüt und dem anschliessenden internationalen Durchbruch mit Titanic (1997) kämpft Winslet mit ihren Rollen direkt und indirekt für eine Veränderung der Perspektive im Hinblick auf das Bild der Frauen im Kino, egal ob sie eine Hippie-Mutter in Marokko (Hideous Kinky, 1999), Jim Careys vergessene Geliebte in Eternal Sunshine of the Spotless Mind (2004) oder die junge Aussteigerin spielt, die in Jane Campions Holy Smoke (1999) gegen den Willen ihrer Familie nach Erleuchtung strebt. Häufig ist es die Unerschrockenheit, mit der sich ihre Figuren ins Abenteuer, in eine Romanze und nicht selten ins Unglück stürzen, die einem auf den ersten Blick imponiert. Aber was am Ende bleibt, ist immer ihre Wahrhaftigkeit. Winslet fühlt, lacht und weint mit ihren Figuren, begleitet sie an ihre Grenzen und darüber hinaus. Sie ist niemals nur bei den Frauen, die sie spielt, sondern stets mittendrin in ihren gebrochenen Herzen, geht für sie und mit ihnen auf die Suche nach der Liebe oder sich selbst.   

 

Sarah Pierce, Winslets desillusionierte Ehefrau in Todd Fields Little Children (2006), bringt die Sache mit dem Wunsch nach einem erfüllten Leben einmal auf den Punkt, als sie im Lesezirkel mit den Hausfrauen aus ihrem verschlafenen Bostoner Vorort über Madame Bovary als Feministin spricht: Nicht aus Dummheit würde Flauberts Protagonistin einen Seitensprung begehen, sondern aus Verzweiflung im Zuge einer impulsiven, privaten Rebellion. Und fast möchte man ihr vom Kinosessel aus zujubeln, als sie ihr feuriges Plädoyer gegen ein Dasein im Trübsal hält. Denn es ist derselbe Widerstand, mit dem sich Sarah gegen die eigene innere Tristesse zu wehren versucht, indem sie eine Affäre mit einer flüchtigen Bekanntschaft vom Spielplatz eingeht. Und es ist auch der Grund, weshalb die von Winslet mit viel Verve und Gefühl verkörperte emotional instabile Ex-Schauspielerin Ginny in Woody Allens Wonder Wheel (2017) mit Justin Timberlakes Rettungsschwimmer Mickey anbändelt. Beide Frauen stecken fest in einer Welt, die sie sich so nicht erträumt haben. Beide wollen sie mehr als den trügerischen Schein einer glücklichen Ehe, mehr als den Schein des berüchtigten «American Way of Life», den auch Sam Mendes in Revolutionary Road (2008) mit glasklarem Blick seziert. Für seinen Ausflug in die Niederungen mittelständischer Eheroutine in den 1950er-Jahren liess der britische Regisseur Winslet, die damals mit ihm verheiratet war, erneut mit ihrem ehemaligen Titanic-Partner Leonardo DiCaprio in den Untergang gleiten. Und die Vertrautheit zwischen den beiden belebt den Film. Trotzdem ist es am Ende auch hier Winslet, die ihrem männlichen Counterpart die Show stiehlt. Ihr Spiel ist Trumpf, dezent, aufwühlend und tiefgründig zugleich.   

 

Nicht schlecht für eine Aktrice, die sich von Anfang an ohne eine klassische Schauspielausbildung vor die Kamera gewagt hat und die seither beinahe pausenlos mit den grössten Filmschaffenden der Gegenwart dreht. Dass sie erst einen Oscar vorweisen kann, den sie 2009 für ihre Rolle in Stephen Daldrys The Reader (2008) gewann, zeugt dabei lediglich von der Beliebigkeit, mit der in Hollywood Preise vergeben werden. Verdient hätte sie mehr. Spielen, darin liegt für Winslet eine Berufung, die ebenso viel Kraft wie Hingabe von einer Charakterdarstellerin wie ihr verlangt. Davon erzählen alle ihre Filme, jede Szene, jeder noch so flüchtige Augenblick. Manchmal ist es nicht mehr als eine banal erscheinende Geste: Die Art, wie Clementine in Eternal Sunshine of the Spotless Mind zu Beginn ihrer Romanze mit Joel (Carey) einen ungenierten Annäherungsversuch im Zug startet, oder Anne Benning in Ammonite bei der ersten Begegnung mit ihrer späteren Liebhaberin Charlotte Murchison (Saoirse Ronan) konsequent den Blickkontakt mit ihr vermeidet. Jede Bewegung, jeder Blick findet bei Kate Winslet stets Ausdruck und Berechtigung zugleich. Wie aus ihren Figuren auf der Leinwand Menschen werden, ist eine Kunst, der man sich nur schwer entziehen kann. Am besten, man versucht es erst gar nicht.   

 

Pamela Jahn ist Autorin und Filmjournalistin. Sie schreibt u.a. für das «ray Filmmagazin», für «Sight & Sound», «FAQ» und das «Electric Sheep Magazine». Sie lebt in London und ist dort auch als Filmkuratorin tätig.   

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