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Filmreihe

 
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Habemus Michel Piccoli

Monsieur Cinéma!


Seit über siebzig Jahren ist er auf Leinwänden präsent – und scheint doch niemals jung gewesen zu sein. Schon mit dreissig spielte er gefallene Priester, Offiziere, Polizisten, und als er durch Le mépris und Belle de jour berühmt wurde, war ihm die Rolle des gestandenen Mannes schon fast zur zweiten Natur geworden. Er war der leidenschaftliche Liebhaber von Romy Schneider in Les choses de la vie, der mörderische Komplize von Stéphane Audran in Les noces rouges oder der flatulierende Fernsehproduzent in La grande bouffe. Mehr als 200 Rollen verkörperte Michel Piccoli im Laufe seiner Filmkarriere und brillierte noch in Altersrollen als Künstler in der Schaffenskrise, alternder Theatermann oder flüchtiger Papst. Seine Paraderolle aber bleibt die des kultivierten Bourgeois, unter dessen diskretem Charme auch immer Abgründe, Pervertierungen und Obsessionen brodeln.

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Wie kein anderer beherrschte er das Spiel der Lebenslügen und Doppelbödigkeiten. Er hat mit Jean-Luc Godard gedreht, mit Claude Chabrol, Luis Buñuel, Agnès Varda, Louis Malle, Manoel de Oliveira und – immer wieder – mit Claude Sautet. In diesem Jahr wird der Grandseigneur des französischen Kinos 95 Jahre alt. Das Stadtkino Basel feiert ihn mit einer Hommage und zeigt erlesene Höhepunkte seiner Karriere.

 

Anfangs ist er nur im Hintergrund zu sehen, etwas unscharf, ein Kardinal unter vielen in dem Konklave, das den neuen Papst wählen soll. Aber seine Erscheinung ist wohlvertraut und unverwechselbar: Regisseur Nanni Moretti kann Michel Piccoli in Habemus Papam zunächst nur ganz beiläufig ins Spiel bringen, denn wir wissen, dass mit ihm zu rechnen ist.
Die anderen Kardinäle flehen insgeheim Gott an, nicht erwählt zu werden. Dieser Kandidat atmet schwer, während er die Auszählung der Stimmen verfolgt. Als es ihn dann trifft, applaudieren alle erleichtert. Der Auserwählte schluckt, als er das Ergebnis hört. Gleich darauf bricht er in einen Schreikrampf aus. Habemus Papam handelt davon, wie sich einer seinem Schicksal unerhört widersetzt: Statt Heiliger Vater zu werden, will er lieber ein heiliger Narr sein. Michel Piccoli legt nämlich eine unverhoffte, verborgene Seite seiner Leinwandfigur frei: ihre Liebe zum Theater. Der Kardinal fühlt sich unter Schauspielern wohler als im Vatikan. Er kennt seinen Tschechow genau; womöglich gar besser als die Bibel. Das Publikum hätte ohnehin gewarnt sein können, denn berechenbar sind die Charaktere, die dieser Vollblutschauspieler verkörpert, nie.

 

 

Furchtlos und grosszügig

Sein Rollenname in Habemus Papam lautet Melville, wobei man augenblicklich an einen seiner vielen Regisseure denkt: Einer wie Piccoli schleppt Filmgeschichte mit sich herum. Seit mehr als sechs Jahrzehnten ist er ein verlässlicher Gefühlswert im europäischen Autorenfilm. Er ist aus ihm nicht fortzudenken, weder aus seiner Vergangenheit noch aus seiner Zukunft. Er lässt es zu, dass die Regisseure verstörende, auch monströse Facetten an ihm offenbaren. Er tut es mit der Furchtlosigkeit des Interpreten, der bereit ist, sich grosszügig auf einen moralischen Zwiespalt einzulassen, der aber vielleicht insgeheim doch darauf spekuliert, dass man in seinen Rollen eher ein Alter Ego des Filmemachers erahnen wird. Welcher andere Schauspieler wäre glaubhaft gewesen als Schriftsteller, der in Agnès Vardas Les créatures (1966) mit Pferden und Hasen spricht?
Mit Jean-Luc Godards Le mépris wird 1963 erstmals seine unbedingte Bereitschaft spürbar, sich dem jeweiligen Blick eines Filmemachers anzuvertrauen, ohne dabei von seinem eigenen Weg abzuweichen. Seither navigiert er mühelos zwischen den unterschiedlichen, gegensätzlichen Universen von Jean-Luc Godard, Claude Sautet, Marco Ferreri, Jacques Rivette, Leos Carax und Manoel de Oliveira; Luis Buñuel hält er in sechs Filmen die Treue.

 

Hingabe unter Vorbehalt

Der 1925 in Paris als Sohn eines italienischstämmigen Musikerpaares geborene Schauspieler debütiert unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg vor der Kamera. Aber ernsthaft betreibt er seine Leinwandkarriere erst Mitte der Fünfziger. Den jeune premier, den naiven jungen Liebhaber, hat er nie gespielt; auch mit vollem Haarschopf nicht. Allerdings ist der häufigste Leinwandpartner von Romy Schneider und Catherine Deneuve seit jeher ein grosser Verführer; wenngleich selten ein selbstgewisser. Die Aufmerksamkeit seines Blickes auf sich zu ziehen, ist zwar ein schmeichelhaftes Privileg. Aber es hat Widerhaken. Seine Augen mögen weich und fragil wirken, sein Lächeln zuversichtlich und ermutigend, aber im nächsten Moment schon kann sein Blick durchdringend und entlarvend sein.
In Le mépris legt er gemeinsam mit Brigitte Bardot liebevoll das Inventar ihres Körpers an und schwört, sie absolut, zärtlich und tragisch zu lieben. Und eigentlich horcht etwas in seinen Figuren auf die Bedürfnisse und Rechte der Frauen, die sie freilich nie ganz erfüllen können und wollen. Denn ihre Hingabe bleibt vorbehaltlich. Claude Sautet entdeckt einen Zug der «eleganten Misogynie» in der Leinwandpersona Piccolis, den er seit Les choses de la vie (1970) und gleich darauf in Max et les ferailleurs beharrlich und unnachgiebig auslotet. Den Vorwurf der Verlogenheit, des feigen, verächtlichen Zauderns pariert Piccoli in dessen Filmen meist nur mit Schweigen und Lethargie. Hinter diesem resignierenden Einverständnis mit der Erosion der Gefühle lässt er noch eine Resonanz ihrer verlorenen Tiefe und Aufrichtigkeit anklingen. Als Romy Schneider ihn nach ihrer letzten, erbitterten Auseinandersetzung in Les choses de la vie fragt, ob er ihr irgendetwas erwidern könne, antwortet er lakonisch «Non». Aber Piccoli legt die allergrösste Zärtlichkeit in dieses «Non».

 

Der vertraute Fremde

Drei, vier Kinogenerationen sind mit ihm aufgewachsen. Wie oft haben wir ihm schon beim Rasieren (fast immer nass), beim Binden der Krawatte oder Anzünden einer Zigarette zugesehen! Er hat uns am Schauspiel teilhaben lassen, wie seine Stirn im Lauf der Jahre immer höher und die verbliebenen Haare zusehends grauer werden; nur die buschigen, dunklen Augenbrauen, mit denen er ironische Akzente setzt, trotzen noch lange Zeit der Altersfärbung. Er hat sich auf der Leinwand mannigfach entblösst: selbst noch als Papst bei Nanni Moretti immer auch im Wortsinne einer beeindruckenden, uneitlen Fleischlichkeit.
Dass er sich bei aller Vertrautheit und Intimität seiner Darstellungen stets eine Aura des Fremden bewahrt, einen unergründlichen Rest, das ist das Pfund, mit dem er auf der Leinwand wuchert. Diese Undurchsichtigkeit hätte ihn eigentlich früh aufs Genrekino festlegen können. Er ist zwar exzellent als Schurke bei Melville und Hitchcock. Aber solche Rollen interessieren ihn allenfalls als Varianten jenes Rollenfachs, das er so formvollendet wie kein Zweiter beherrscht: den Bourgeois. Mit unvergleichlicher Kennerschaft verkörpert er dessen standesgemässe Leidenschaften und Lebenslügen, wahrt dabei die Contenance. Er ist mit den Konversationsregeln dieser Klasse bestens vertraut, respektiert die Arrangements und Rituale dieses Milieus. Ein berückender Solitär in dieser Galerie der Maskeraden und Intrigen ist sein Part in Claude Chabrols Les noces rouges (1973): Die Heftigkeit der Leidenschaft, die ihn als ehebrechenden Kommunalpolitiker jegliches gesellschaftliche Kalkül vergessen lässt, gewinnt eine Reinheit und Unschuld, die präzedenzlos ist im Oeuvre dieses Regisseurs. Piccoli kann trotz aller Vorbehalte ein Ergriffener sein.
Nie ist er jedoch ein unbefleckter Kronzeuge der Verworfenheiten dieses Milieus. Seine Charaktere wissen um die eigene Korruption, den Verrat einstiger Ideale und ihr Versagen als Ehemann, Liebhaber oder Vater. Im Gegenzug schreibt sich die Lust an Ausbruch und Anarchie seit dem Tumult von 1968 beharrlich in seine Rollen ein, in Themroc (Claude Faraldo, 1973), La grande bouffe und weitere Skandalfilme, denen er in den frühen Siebzigern sein Talent leiht. Sie klingt 1989 als heiteres Echo in Louis Malles Milou en mai nach, wo er der kindlich-weisen Titelfigur tschechowsche Hintergründigkeit erspielt: ein schöner Reflex auch seiner Bühnenarbeit, eine Variation der Figur des Gaev, die er einige Jahre zuvor in Peter Brooks «Kirschgarten»-Inszenierung gespielt hat.
Mit den Jahren disponieren ihn seine Weltgewandtheit und Autorität für Patriarchenfiguren, deren Sarkasmus die Jüngeren zu fürchten haben und der sie beharrlich herausfordert. Piccoli perfektioniert den Rollentyp des machiavellistischen Mentors, der allein das Losungswort zu kennen scheint zu einem Reich unverhoffter Erfolge und dekadenter Genüsse. Er bleibt unaufhörlich gefesselt von den subtilen Verwerfungen der Charaktere, ein souveräner Analytiker ihrer unausgesprochenen Beweggründe. So ist in Je rentre à la maison (Manoel de Oliveira, 2001) keine Spur von Altersmilde oder Sentimentalität zu entdecken, sondern die teilnehmende Erforschung von Glück und Unglück, Spiel und Wahrheit. Denn Piccoli weiss längst , dass man im Alter neben den Königen auch die Hofnarren spielen sollte. Dem Kino ist er seit Habemus Papam weitgehend abhanden gekommen. Ob es auch weiss, was ihm an diesem Schauspieler, der unbeirrt fasziniert ist von den Abgründen der menschlichen Natur, entgeht?

 

Gerhard Midding

 

Wir danken der Alliance Française de Bâle für die freundliche Unterstützung dieser Reihe.

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