Godard
Who is JLG?
Seinen Namen kennen alle – seine Filme auch? Jean-Luc Godard war Revolutionär und Popstar des Autorenfilms, Mitschöpfer der Nouvelle Vague, Meister des Bilder-Denkens, Cineast und Rätselerfinder. Ein Gesamtwerk so rastlos und vielschichtig wie Godard selbst: von Pop-Triumphen, politischen Traktaten bis hin zu verschachtelten Essayfilmen in 3D – Godards Filme muss man einfach gesehen haben. Kaum ein anderer Regisseur traute sich die Grenzen des Kinos derart radikal auszuloten, irgendwo zwischen verspielten Dramen unter Starbesetzung à la Belmondo und Bardot, ausufernden Roadmovies, implodierendem Gangsterkino und verkopften Filmexperimenten. In seiner Kunst blieb der im letzten Jahr verstorbene Regie-Meister niemals stehen und «lebte» den Film bis zum Schluss. Ein Kino, das irritiert, überrascht, vor Rätsel stellt. Denken und Fühlen in filmischen Bildern, das kann man wohl nirgends so gut wie mit Jean-Luc Godards Filmen.
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Von dem deutschen Philosophen Hans Blumenberg gibt es ein bekanntes Buch mit dem Titel Höhlenausgänge. Es beschäftigt sich mit einem alten Motiv des abendländischen Denkens, das seit Platon kursiert: die Wirklichkeit wäre dem Höhlengleichnis zufolge nur ein schwacher Vorschein einer anderen, substanzielleren Realität. Sie wäre, pointiert gesagt, so etwas wie schlechtes Kino, und es komme nur darauf an, die Höhle (oder den dunklen Saal) zu verlassen und dann (unter offenem Himmel) die Wahrheit zu erkennen. Bei Blumenberg geht es stark darum, die Höhle als Chance zu begreifen, als einen Ausgangspunkt für Reflexionen und Erkenntnisprozesse.
Es ist ein reizvoller Gedanke, sich das Werk des 1930 in Genf geborenen Jean-Luc Godard als eine grosse, weitverzweigte Höhle vorzustellen. Im Lauf seines langen Schaffens hat er immer tiefere Stollen in das Bildgedächtnis der Menschheit getrieben, er hat sich «vergraben» in einer sehr eigenen Sicht auf die Welt. Das Kino war für ihn dabei die zentrale Instanz, und wenn man vor allem seine monumentalen Histoire(s) du cinéma (Mini-Serie, 1989-1999) als Orientierungspunkt nimmt, dann kann man durchaus darüber diskutieren, ob für ihn nicht das Archiv das eigentliche Ziel der Weltgeschichte war. Gleichzeitig hielt er stark daran fest, dass das Kino mit der konkreten (äusseren) Wirklichkeit in Verbindung blieb – er bestand sogar darauf, dass es revolutionäre Wirkung haben müsste.
Üblicherweise teilen die Experten sein Werk mit über 130 Filmen in verschiedene Phasen ein, und eine davon ist die revolutionäre: Sie begann 1968, als er sich vom Kino verabschiedete und mit der Groupe Dziga Vertov kollektiv zu arbeiten begann, an nicht immer leicht zugänglichen Agitpropfilmen wie Un film comme les autres (1968) oder British Sounds (1970) oder später mit seiner Partnerin Anne-Marie Miéville an Ici et ailleurs (1976), einer profunden Reflexion auf die Distanz eines europäischen Intellektuellenpaars zu den Befreiungsbewegungen in der damals so genannten Dritten Welt.
Doch Godard war im Grunde immer ein revolutionärer Filmemacher, der von frühen Umstürzen und Revolten der Form ausging: seine jazzige Umschrift des amerikanischen Gangsterkinos in À bout de souffle (1960) (viel radikalerer Jazz als bei Louis Malle in Ascenseur pour l’échafaud) oder seine demonstrative Objektivierung des weiblichen (nackten) Starkörpers von Brigitte Bardot in Le mépris (1963). 1968 erklärte er der Welt der bestehenden Verhältnisse offen den Krieg, der Urwald vor den Toren von Paris in Week-End (1967) war seine erste Höhle nach den vielen Kinofluchten, die schon sein Werk in den 60er-Jahren prägten. Von der Bourgeoisie führte Week-End über einen legendären Stau in eine «primitive» Gesellschaft, die nur einen zweifelhaften Neubeginn darstellte.
Mit der Rückkehr in die Schweiz hatte er in der Kombination aus Studio / Atelier / Handwerksbetrieb in Rolle auch örtlich seine persönliche Höhle gefunden, einen archimedischen Punkt, von dem aus er zugleich Freilegungen vornehmen konnte, die Arbeit der Archäologie wie auch Verbergungen. Die medienkritischen Arbeiten der 70er-Jahre zeigen ihn oft inmitten seiner Apparaturen, er besass irgendwann eine veritable Sammlung inzwischen antiker Videotechnik, und unterwanderte damit das Fernsehen (mit seinen grossen Serien Six fois deux/Sur et sous la communication (1976) und France/ tour/détour/deux/enfants (1977) , und schliesslich, nach seinem «Comeback» in den 80er-Jahren, auch das Kino. Sein King Lear aus dem Jahr 1987, ein Projekt, das er zwei Action-Produzenten unterjubelte, ist ein schönes Beispiel dafür, wie er in all diesen Jahren Inspirationen oder auch einfach klassische Texte, in diesem Fall die Tragödie von Shakespeare, aufgriff, um sie mit seinen eigenen Assoziationen neu zu verschlüsseln, dabei aber eben auch ihr revolutionäres Potenzial freizulegen. Da damals auch gerade die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl die Welt bewegte, setzte Godard seinen King Lear auch in das Zeichen einer ökologischen Angst.
Der theoretisierende Godard der 70er-Jahre legt im Übrigen eine weitere Assoziation nahe: Dem Bild der Höhle bei Blumenberg entspricht der Begriff des Rhizoms bei den französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari. Das unterirdische Wurzelwerk an Bedeutungen und Energien bei den Autoren des «Anti-Ödipus» zeichnet sich, wie auch Godards Werk, dadurch aus, dass es nicht mehr notwendig irgendwo zusammenlaufen muss. Die Verzweigung ist wichtiger als die Vereinigung. Das entlastet auch alle diejenigen, die eine Auswahl aus dem Werk von Godard treffen wollen oder sollen. Sie können nicht wirklich etwas falsch machen, denn jedes Fragment aus dem Riesen-Oeuvre von JLG enthält zumindest latent immer schon alle anderen. Jedenfalls in dem einen Modus, der bei ihm von Beginn an galt: Original und Zitat sind bei Godard konstitutiv durcheinandergewirbelt. Das begann mit seinem Star Jean-Paul Belmondo, von À bout de souffle bis Pierrot le fou (1965), den er als Hommage an Humphrey Bogart sah und der seine Gesten aus einer Verehrung für das amerikanische Kino entwickelte.
In Bande à part (1964) verlieh er seinem «eiligen» Umgang mit der Kultur durch eine berühmte Szene Ausdruck, in der die jungen Hauptfiguren um die Wette durch den Louvre rennen. So lief Godard auch immer durch die Welt der Motive, so kreuzte er in Je vous salue, Marie (1985) die Jungfrauengeburt Jesu mit moderner Naturwissenschaft , so suchte er in Allemagne 90 neuf zéro (1991) am Ende eines Zeitalters in Deutschland auf den Spuren von Hegel nach Mustern eines Geschichtsverlaufs, an dem er verborgene Logiken erkennen wollte, die er aber zugleich wie die Fantasien verlorener Geheimagenten ins Leere laufen liess.
Das Gewirr von Stimmen und Bildern, die vielfachen Überlagerungen in seinem Spätwerk, das mit den Histoire(s) du cinéma begann, ergaben irgendwann ein Kino, das von einem Museum oder einer Bibliothek (oder eben einem Bildband) nicht mehr leicht zu unterscheiden war. Das romantische Konzept einer Universalpoesie, einer Gattung für alles, dachte er von der Seite der Bilder neu. Wobei der Begriff des Denkens bei Godard auch seine eigenen Bedingungen enthält, denn bei ihm gelten zum Beispiel nicht die Gesetze der Logik, und Folgerichtigkeit ist bei ihm immer assoziativ. Mit seinen Collagefilmen von Eloge de l’amour (2001) über Notre Musique (2004) bis zu den beiden absolut grundlegenden Schlussstücken Adieu au langage (2014) und Le livre d’image (2018) schuf er eine genuine Form für ein Nachdenken über tatsächlich alles, das niemals beliebig war, aber geschützt vor allen Fallen der Identifikation oder der Rationalisierung. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien brachte ihn noch einmal auf eine Bruchlinie zurück, die seine Generation als entscheidend erlebte: Imperialismus gegen Freiheit, Amerika gegen Vietnam, Frankreich gegen den Orient (von Le petit soldat (1963) bis Film Socialisme (2010)), Israel in Palästina, Faschismus gegen Résistance, zugleich wurden diese Bruchlinien aber in Sarajewo unklar, und die Parteinahme öffentlicher Intellektueller wie Susan Sontag oder Juan Goytisolo stiessen an Grenzen. Godard war oft in den gleichen Zusammenhängen unterwegs wie diese engagierten Figuren, die nach dem Eindeutigen in komplexen Konflikten suchten. Aber er verliess dabei seine Höhle niemals vollständig, er suggerierte niemals eine Bewegung des Heraustretens aus der Illusion in die Wahrheit. Bei ihm war immer klar, dass der Sinn im Inneren der Verschlungenheit liegen muss, in einem niemals erreichbaren Kern, auf den hin er doch unbeirrt Sondierung um Sondierung vornahm. Immer tiefer ins Innere, immer stärker ins Licht einer Erleuchtung, die im Kino immer eine unsichtbare Quelle hat. Orpheus, der sich nicht umdrehen soll, ist die Präfiguration für JLG: Er schaut tatsächlich nicht zurück, weil alle Irrwege vorwärtsführen.
Bert Rebhandl ist einer der profiliertesten deutschsprachigen Filmkritiker. Er schreibt vor allem für die «Frankfurter Allgmeine Zeitung» und den «Standard». Er hat Bücher über Orson Welles, den Western und die Serie «Seinfeld» geschrieben. Jüngst ist «Jean-Luc Godard: Der permanente Revolutionär» (2020) im Paul Zsolnay Verlag erschienen. (www.BRO198.net)
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