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Filmreihe

 
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Aufbruch in die Moderne!

Das Fin de Siècle (1885-1914)


Beschleunigung, Anderswerden, Altes gegen Neues. Ein Übergang als Aufbruch und Quelle des modernen Denkens, eine Zeit radikaler sozialer Umbrüche und harter Gegensätze, die aufeinander stossen: Das Fin de Siècle bietet ebenso vielschichtige wie faszinierende Errungenschaften, die bis heute wirken. Bahnbrechende neue Theorien wie die von Einstein oder Freud verändern das Denken, die Künste erneuern sich, Technologien wie die Eisenbahn oder das Automobil revolutionieren den Alltag, Errungenschaften wie das Telefon unsere Kommunikation und dann ist da noch die Geburt des Kinos! Das Stadtkino Basel widmet sich dieser aufregenden Phase des Aufbruchs mit einer Filmauswahl, die unterschiedlichste Zugänge zu einer schillernden Zeit und ihren Protagonist:innen offeriert: ob elegantes, aristokratisches Dandytum in Schlöndorffs Un amour de Swann, der Bohemienlook eines Jacques Dutronc in Van Gogh, moralisch verkommenes Grossbürgertum in Polanskis Jaccuse oder aufstrebende Frauenrechtlerinnen in Sarah Gavrons Suffragette, sie alle versprühen nicht zuletzt durch die üppige Ausstattung und das farbenfrohe Zeitkolorit die visuelle Sogkraft des Kinos!   

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VON DER KREATIVITÄT DES UNTERGANGS

 

Die Epoche des sogenannten Fin de Siècle, auch heutzutage manchmal noch Jahrhundertwende oder Belle Epoque genannt, bezeichnet den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Ihr Beginn liegt in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts, das Ende fällt zusammen mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Es ist eine Zeit radikaler sozialer und politischer, aber auch philosophischer und künstlerischer Umbrüche, eine Zeit, in der harte Gegensätze aufeinanderstossen: Der alteingesessene Adel und das neue Grossbürgertum fürchten die Macht eines schnell anwachsenden städtischen Proletariats, Frauen kämpfen um ihre gesellschaftliche Teilhabe, Nationalismus und Antisemitismus hetzten Völker und Volksgruppen gegeneinander auf. Viele dieser Konflikte entladen sich im Ersten Weltkrieg.   

 

Doch die genannten Spannungen machen sich schon Jahrzehnte früher bemerkbar. Imperialismus und Kolonialismus, eine rasant zunehmende Industrialisierung, Landflucht und Verarmung bilden den politischen und ökonomischen Rahmen, in dem sich nicht nur die totalitären Ideologien des späten 19. Jahrhunderts weiter radikalisieren, sondern auch eine ganze Reihe von aufregend modernen, philosophisch und moralisch völlig neuen, ungewöhnlichen, ja skandalösen Ideen erstmals in Erscheinung treten. Klassische und realistische Perspektiven werden infrage gestellt, verbindliche Werte und ästhetische Vorstellungen eliminiert und durch neue Weltanschauungen und Kunsttheorien ersetzt. Auffallend ist dabei die ungeheure Spannbreite und Gegensätzlichkeit der neuen Ausrichtungen. In der Philosophie wären hier vor allem Friedrich Nietzsche und sein polemischer Vitalismus zu nennen, aber auch der erkenntnistheoretische und sprachkritische Skeptizismus eines Fritz Mauthner. In der Literatur so unterschiedliche Phänomene wie die symbolistisch ästhetizistische Lyrik eines Stefan George, Rainer Maria Rilke oder Hugo von Hofmannsthal auf der einen und die sozialkritisch fundierten Werke von Karl Kraus oder Heinrich Mann auf der anderen Seite. In der Kunst haben wir die albtraumhaften Zeichnungen von Odilon Redon und Alfred Kubin, später dann die experimentellen Werke des Expressionismus und Kubismus. In der Musik zum einen das kaum zu überbietende Pathos eines Richard Strauss oder Gustav Mahler, zum anderen die abstrakte, mathematische Strenge der neuen atonalen Musik der Wiener Schule.

 

Es ist eine Ästhetik der Extreme und Kontraste, die in ihrer radikalen Suche nach neuen Horizonten unzählige kreative Grenzüberschreitungen und Tabubrüche inszeniert. Ein Grundzug von Kunst und Gesellschaft ist die Maskerade. Sie feiert ihre Triumphe im operettenseligen Wien der dahinsiechenden Donaumonarchie ebenso wie im latent antisemitischen Paris der Dreyfus-Affäre. Und sie findet ihren Ausdruck im Dekor und schwelgerischen Pomp, der mit der Ornamentik des Jugendstils die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Märchen und Alltagswelt ganz gezielt und in bewusster Opposition zum verachteten Naturalismus verwischt. 

 

Aber auch die Wissenschaft macht um 1900 – nun endgültig befreit von religiösen Denkverboten und Tabus – sensationelle Entdeckungen, vor allem auf dem Gebiet der Physik und Medizin. Bahnbrechende neue Theorien öffnen das Kapitel der Moderne: 1905 veröffentlicht Albert Einstein seine Spezielle Relativitätstheorie, 1899 erscheint Sigmund Freuds «Traumdeutung», während technische Innovationen wie Eisenbahn und Automobil, Telegraf und Telefon und natürlich auch das Kino die Kommunikation zwischen Menschen und Staaten von Grund auf verändern. Doch werden diese Entdeckungen und Erfindungen keineswegs nur begrüsst. Ein sich in verschiedenen politischen und künstlerischen Bewegungen artikulierender Antimodernismus – man denke hier zum Beispiel an den Boom der sogenannten «Heimatliteratur» – gehört ebenso zu den Anfängen der Moderne wie Avantgarde und Dekadenz. 

 

Es ist eine Zeit, in der die alte Welt sich selbst zu musealer Glorie stilisiert, in der die grossen imperialen Weltreiche und Monarchien des sogenannten viktorianischen und wilhelminischen Zeitalters, zu dem auch die Endphasen der Habsburgermonarchie und des russischen Zarenreichs gehören, sich mit letzter Kraft gegen den Druck der Moderne sträuben, während die neue Welt fast täglich geografische, ökonomische, soziale und mediale Grenzen überschreitet und nach zeitgemässen politischen Entwürfen und Weltbildern verlangt. Das Bürgertum steht zwischen den Fronten und versucht, entweder durch Anpassung an den Habitus des Adels oder durch den avantgardistischen Schulterschluss mit der Arbeiterschaft eigene Identitäts- und Lebensformen zu definieren. Von besonderer Bedeutung für Kunst und Literatur ist in diesem Zusammenhang der Ende des 19. Jahrhunderts entstehende Typus des Bohemien, des «Poète maudit», Kellerloch- und Mansardendichters, dessen künstlerische Reputation im Widerspruch steht zu seinem Erfolg auf dem Kunstmarkt.    

 

Dabei entstehen neue, oft mehrdeutig schillernde Wertsysteme und Weltanschauungen, die weite Gebiete des alltäglichen Lebens symbolisch durchdringen. Dies betrifft zum Beispiel die Vorstellungen von Mode, Stil und gutem Geschmack, aber auch so fundamentale soziale und emotionale Bereiche wie Ehe und Familie. Melancholischer Weltschmerz und frivole Dekadenz verbinden sich zu einem neuen, überaus charakteristischen Ensemble. Der Adel zelebriert seinen eigenen Untergang, indem er sein kulturelles Potential zu ganz besonderem, luxuriösen bis extravagantem Raffinement steigert. In einer Art narzisstisch-neurasthenischer Kollektivneurose werden Finesse und exzessive Sensibilität ideologisch zugespitzt und zu einer Ästhetik verdichtet, die auch den Kult des Morbiden, Satanischen und Perversen mit einschliesst. Bei solchen Umdeutungen und Umwertungen übernehmen die Hure und die «Femme fatale» die Funktion von doppeldeutigen Entlastungsfiguren einer verstörten männlichen Sexualität, während die reale Frauenemanzipation gerade im bürgerlichen Lager auf wenig Gegenliebe stösst. Antikonformismus und dekadenter Luxus gehen Hand in Hand, der Dandy und der Bohemien sind oft nur einen Schritt voneinander entfernt. Was sie vereint, ist die Ablehnung kleinbürgerlicher Bodenständigkeit. Die neue, mit der Auflösung sozialer und familiärer Strukturen einhergehende individuelle Freiheit erlaubt eine bis dahin ungeahnte Spannbreite an Lebensformen, aber auch an künstlerischen Experimenten und ästhetischen Extravaganzen. 

 

Dieses überaus heterogene Ensemble aus diffuser Endzeitstimmung, ausgeprägtem, ja revolutionärem Modernitätsbewusstsein, der Vorliebe für artifizielle, spirituelle bis spiritistische Welten in einer Zeit des ungeheuren wissenschaftlichen und technischen Fortschritts spiegelt sich auch in den ausgewählten Filmen. Neben wahren Ausstattungsorgien, die den extravaganten Luxus der Epoche cineastisch aufleben lassen, stehen Filme, die die Frage des absoluten Künstlertums aufwerfen und von einer ganz anderen, von Armut und sozialem Elend geprägten Welt erzählen. Doch gehört das elegante, aristokratische Dandytum eines Jeremy Irons ([Un amour de Swann], Volker Schlöndorff, 1984) genauso zum Lebensgefühl des Fin de Siècle wie der Bohemienlook eines Jacques Dutronc als Aussenseiter der dörflichen Gemeinschaft ([Van Gogh], Maurice Pialat, 1991). Während der eine einer Luxusdirne und «Femme fatale» verfällt, opfert sich der andere seiner Kunst. Die Auswüchse von Doppelmoral und moralischer Verkommenheit eines autoritätsgläubigen Grossbürgertums zeigen Roman Polanskis [J’accuse] (2019) und die Neuverfilmung von Octave Mirbeaus [Journal d'une femme de chambre] (Benoît Jacquot, 2015), während ein Film wie [Malmkrog] (Cristi Puiu, 2020) das säkularisierte, keiner Moral mehr verpflichtete Individuum in den Fokus rückt.    

 

Sabine Haupt, geb. 1959 in Giessen (D), lebt seit 1980 am Genfersee, zwei Töchter, ist Professorin für Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Fribourg. Vorstandsmitglied des Deutschschweizer PEN-Zentrums und des dreisprachigen Literatur- und Übersetzungsfestivals Bieler Gespräche. Neben literaturwissenschaftlichen und feuilletonistischen Publikationen (u.a. zum Fin de Siècle) zwei Erzählbände, zwei Romane sowie zahlreiche Prosatexte in Literatur- und Kulturmagazinen. Im März 2021 erschien ihr neuer Roman Lichtschaden. Zement (verlag die brotsuppe, Biel).   

 

Wir danken Daniel Gautschi, Cinephiler und Kenner des Kostmfilms, der diese Reihe ko-kuratiert hat.

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