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Filmreihe

 
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Paolo e Vittorio Taviani

La forza dell'utopia e della poesia


«Wir haben das italienische Kino erneuert», sagt Vittorio Taviani an der Berlinale 2012 zu Recht, wo er zusammen mit seinem Bruder Paolo den Goldenen Bären für Cesare deve morire entgegennahm. Vom Neorealismo geprägt lehnen sich die Tavianis, die seit ihren Anfängen in den 60er-Jahren stets gemeinsam arbeiten, in den frühen Filmen I sovversivi und Sotto il segno dello scorpione an die Nouvelle Vague an. Auf beiden Strömungen aufbauend entwickeln sie ein eigenes, tief politisches wie poetisches Erzählkino und bewegte Bilder von magischer Kraft.

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Dies sowohl in Filmen, für die sie das Drehbuch selbst entwerfen – wie La notte die San Lorenzo –, als auch in jenen, die teils auf literarischen Vorlagen basieren – wie Kaos oder ihr berühmtestes Werk Padre padrone. Stets geht es ihnen um die Erforschung sozialer wie familiärer Machtstrukturen. Ihre Filme sind humanistische Plädoyers für den wissenden Menschen. Sie erzählen Geschichten von Individuen, die in den Zwängen italienischer Gesellschaften nach einem Stück Selbstbestimmung suchen. Das Kameraauge dringt jeweils tief in ihr Inneres und macht die emotionalen Erschütterungen sichtbar. Das Stadtkino Basel widmet den beiden Filmkünstlern eine Hommage und freut sich – anlässlich der Premiere ihres neuesten Films Una questione privata –, Paolo Taviani am 16. Mai für einen Gesprächsabend zu Gast zu haben.

 

Paolo und Vittorio Taviani wurden als Gymnasiasten vom Kino-Virus infiziert. Die beiden Söhne eines Antifaschisten, dessen Familie nach der Zerstörung des Hauses durch Mussolinis Schergen und Nazis nach Pisa fliehen musste, spazierten durch die Stadt und stolperten dabei gleichsam ins Cinema Italiano: Schon die ersten Bilder «haben uns zutiefst beeindruckt, weil auf der Leinwand Begebenheiten und Gefühle gezeigt wurden, die wir kannten, die Atmosphäre, der Schmerz, die Kraft der Verzweiflung war unsere. Der Film war Paisà von Rossellini. Plötzlich haben wir begriffen, was wir in den Hügeln der Toskana erlebt hatten. Als wir aus dem Kino kamen, stand unser Entschluss fest: Wir werden Filme machen», erzählt Vittorio Taviani im SRF-Interview 2012 in Berlin.

 

Sie gingen nach Rom, ins Zentrum des italienischen Films, lernten den Kommunisten und Filmproduzenten Giuliani De Negri kennen, der an die Film-Afficionados glaubte, und begannen ihr grandioses Erzählkino zu entwickeln. Sie setzen die Albträume ihrer Kindheit sowie ihre aufklärerische Reflexion über das Grauen des Faschismus und der Nazis in kunstvolle bewegte Bilder, deren Bedeutung weit über die persönlichen Erlebnisse hinausgeht. Die Filme blenden zurück in die reiche kulturelle Tradition Italiens und bis ins 19. Jahrhundert, in die Zeit der Einigung des Landes, in der die gesellschaftlich problematische Entwicklung bereits angelegt ist. Einzigartig auch, wie sie das mediterrane, manchmal warme, manchmal gleissende Licht einfangen.

 

Wie aber entwirft und schafft ein Brüderpaar seine Filme? Die Geschichten, die Drehbücher entwickeln sie in reger Diskussion gemeinsam. Auf dem Set beginnt der eine mit einer Sequenz, der andere schaut zu, greift höchstens ein, wenn etwas nicht funktioniert, und setzt dann die Szene fort. So wechseln sie sich kontinuierlich ab und schaffen ein künstlerisches Ganzes. Eine ganz eigene Art zu arbeiten, und sie sagen in Interviews verschmitzt dazu, dass spätere Brüderpaare wie die US-Amerikaner Ethan und Joel Coen sie bloss kopiert hätten.

 

In ihren bislang 21 Spielfilmen nehmen uns die heute 86 und 88 Jahre alten Grossmeister immer neu mit auf Wanderungen durch Italien und führen uns auf verschlungenen Pfaden durch brüchige, abgründige sowie sehnsuchtserfüllte Landschaften menschlicher Psychen. Stets fokussieren die Filmautoren auf den Einzelnen, wie er oder sie innerhalb gesellschaftlicher Zwänge und Unterdrückungsmechanismen um Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung und Menschenwürde ringt, und machen emotionale Erschütterungen, die Ängste und Sehnsüchte fühlbar. Wenn in La notte di San Lorenzo die vor den Nazis Fliehenden der Sprengung ihrer Häuser lauschen, fährt die Kamera in die Ohröffnung der Betroffenen und zeigt die Bilder, die in den Köpfen entstehen.  Die enorme Anspannung, die Verzweiflung auch wird sichtbar.

 

Revolutionäre Träumer

Die erste Parabel der Taviani-Brüder über Menschen im Kampf um eine gerechtere, humanere Gesellschaft ist I sovversivi (1967). Vier Linke suchen nach dem Verlust ihres ideologischen Orientierungspunktes durch den Tod des PCI-Generalsekretärs Palmiro Togliatti im Jahr 1964 fast hilflos nach einem eigenen politischen Weg. «Was machen die blinden Katzen ohne ihre Mutter?», fragt in einer ersten Sequenz die vom jungen Lucio Dalla gespielte Hauptfigur Ermanno. Der symbolträchtige Satz umschreibt, dass die utopischen Visionen nicht allein an den sozialen Realitäten zerbrechen; die Figuren verstricken sich vor allem auch ausweglos in ihrer eigenen Psyche.

 

In San Michele aveva un gallo (1971) und Allonsanfàn (1974) wird anhand historischer Revolutionsversuche im 19. Jahrhundert das Scheitern der Utopien der 1968er-Rebellen durchleuchtet. In San Michele aveva un gallo setzen die Taviani-Brüder gekonnt die Form als Erzählmittel ein: Die Kamera tastet Stein um Stein die Zelle ab, in der der Anarchist Manieri eingesperrt ist – und macht unmittelbar erfahrbar, was Isolationshaft bedeutet. Manieri rettet sich aus der Verzweiflung durch Debatten über Befreiungsideologien mit sich selbst, splittert sich auf in seine politischen Freunde – bis er die Vergeblichkeit seiner politischen Aktionen erkennt.
Die scheiternden Revolutionäre sind – und hier ziehen die Brüder Taviani die Parallele zu 68 – Träumer und Abenteurer, die meist aus gutem Hause stammen. Sie kommen mit ihrer neuen Rolle im Leben nicht zurecht, und ihre Rebellion zerschellt an der sozialen Realität derer, die sie befreien wollen.

 

Abgründe der Gewalt

Illusionslos ist der Blick der Filmemacher auf den Menschen. Die mit Schwarzblenden avanciert gestaltete radikale Anti-Robinsonade Sotto il segno dello scorpione (1969) leuchtet in innere Abgründe: Die vom Erdbeben und Vulkanausbruch auf eine Insel vertriebenen Menschen verlieren in dieser hoffnungslosen Notsituation letzte Reste eines humanen Verhaltens. Sie wollen aus Festland. Dafür rauben, morden sie, um dann erkennen zu müssen, dass dort alle Hoffnungen im ebenso kargen Boden versickern: Dort, wo der Mensch gegen die Natur einen archaischen existenziellen Kampf führt, herrscht brutale Gewalt und Gefühllosigkeit, da herrscht der nackte Trieb. Auch Padre padrone, die bittere Biografie des sardischen Linguisten und Schriftstellers Gavino Ledda, erzählt in aufwühlenden Bildern davon. Der Knabe Gavino wird vom Vater aus der ersten Klasse geholt. Nichts ist der rohen Kreatur suspekter und bedrohlicher als Bildung und Wissen. Omero Antonutti, ein Lieblingsschauspieler der Tavianis, gibt den seinen Sohn bis aufs Blut quälenden Bauern erschreckend lebensecht. Erst in der Ferne, als Soldat, kann sich Gavino durch Bildung befreien und zum wissenden, mitfühlenden Menschen werden. Das mit der Goldenen Palme ausgezeichnete Meisterwerk von 1977 verdeutlicht zugleich, dass die Narben der Qualen als Trauma bleiben: Auch befreit ist er ein Gebrochener.

 

Nur unter Menschen mit einer Seelenbildung gehen Humanität und Empathie in Situationen existenzieller Bedrohung nicht verloren. Im wunderbaren Film La notte di San Lorenzo fliehen Bürger eines toskanischen Dorfes vor dem faschistischen Terror, sie unterstützen sich gegenseitig, solidarisieren sich. Absurdität und Grauen des Krieges zeigen sich im tödlichen Kampf zwischen Faschisten und Partisanen, die aus der gleichen Gegend, teils aus verwandten Familien stammen: Er ist als schauerliches Ballett gegenseitigen Mordens inszeniert.

 

Zivilisation, Bildung, Kunst

Was den Menschen über die eigenen düsteren Abgründe brutaler Gewalt erhebt, das sind Bildung und die Künste, die Geschichte, Gegenwart und das Mögliche sinnlich erfahrbar machen. Die Künste rütteln auf und greifen ans Herz. Wie Theaterkunst selbst Schwerverbrecher, Mafiosi berührt und verändert, zeigt beispielhaft Cesare deve morire (2012). Die Insassen eines süditalienischen Gefängnisses spielen Shakespeares «Julius Cäsar». Meist in Schwarz-Weiss-Bildern verfolgt der Film, der die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion wundersam verwischt, die Proben, die sich zu einem Humanisierungsprozess entwickeln. Sie erkennen so, was Leben heisst: «Seitdem ich weiss, was Kunst ist, ist diese Zelle ein Gefängnis geworden», hält einer fest.

 

Schwere Schicksalsschläge aber können auch Künstler mit ausgebildetem humanem Bewusstsein und viel Empathie aus dem seelischen Gleichgewicht bringen und in ihrer Entwicklung weit zurückwerfen. Ein solcher Schlag lässt in Good Morning Babilonia (1986) das im Filmgeschäft in Hollywood reüssierte Brüderpaar – zwei Restauratoren, die ihre Genialität im Kulissenbau entfaltet haben – auseinanderbrechen und ins Bodenlose stürzen. Hier – in diesem zauberhaften, mit Selbstironie gespickten Werk – ist es dann doch wieder die Kunst, die sie wachrüttelt. In Kaos schliesslich (was auf sizilianisch Heimat heisst), da erhebt sich die Kunst hoch in die Lüfte und dringt zugleich tief in die menschliche Seele ein. Die dreistündige Verfilmung verknüpft fünf Erzählungen des sizilianischen Dichters Luigi Pirandello auf wunderbare Weise. Ein schwarzer Rabe führt von Geschichte zu Geschichte, in denen Menschen nach einem Stück Glück, Lebendigkeit und Liebe suchen in den festen, oft unwürdigen sozialen Strukturen der mediterranen Insel. Gekrönt wird das grosse Kunstwerk durch den Epilog: Pirandello kehrt nach dem Tod der Mutter auf sein Gut, ihr Zuhause, zurück. Hier begegnet er ihr und der Geschichte seiner Familie, und er weiss: Sie lebt, solange er sich ihrer erinnert. Und er weint, weil die Mutter mit dem Tod ihr eigenes Erinnern verliert.

 

Christian Fluri

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