
JAPANS AUFBRUCH
TYPHOON CLUB BIS DRIVE MY CAR
Poetische Zartheit trifft auf erzählerische Wucht. Und einfühlsame Charakterstudien auf unterdrückte Gefühle. Während Shinji Somai als stilprägende Figur des japanischen Kinos der 1980er- Jahre gilt, ist Ryusuke Hamaguchi einer der wichtigsten aktuell lebenden Regisseure Japans. Somai und Hamaguchi fangen die unausgesprochenen Facetten des Erwachsenwerdens und der Selbstfindung in der japanischen Gesellschaft ein: gefühlsverwirrte Jugendliche, die in einer leeren Schule von einem Taifun heimgesucht werden; der geplatzte Wunsch einer Teenagerin nach einer glücklich vereinten Familie; oder das unverhoffte Aufeinandertreffen von einem Vater mit seiner verloren geglaubten Tochter in einem Taxi mitten in Tokio. Eindrucksvoll und voller Wendungen offenbart sich die Kraft des japanischen Kinos. Diese feiern wir zusammen mit dem Festival Japanischen Geschmacks Konomi (30.03.-05.04.25).
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In der Wohnung der kleinen Renko und ihrer Mutter Nazuna hängt ein Blatt Papier an der Wand. Es regelt die alltäglichen Pflichten: Wer soll wann die Wäsche aufhängen? Wer kauft ein? Wer kocht? Im Grunde alles ganz gewöhnliche Dinge, aber die Überschrift geht darüber hinaus. Denn die Mutter hat ganz oben das Wort «Verfassung» geschrieben, als wären sie und ihre Tochter eine kleine Republik. Und so ist es ja auch tatsächlich. Nazuna hat sich von ihrem Mann getrennt, sie hat sich für unabhängig erklärt. Ein bisschen Pathos ist da durchaus angebracht.
Die Szene stammt aus dem Film Moving von Shinji Somai aus dem Jahr 1994. Heute gilt er als Hauptwerk eines Regisseurs, der lange Zeit in der internationalen Wahrnehmung deutlich unter Wert gehandelt wurde. Im Routledge Handbook of Japanese Cinema (2020), einem der neuesten Standardwerke, wird Shinji Somai ein einziges Mal beiläufig erwähnt. Dreizehn Filme gibt es von ihm, entstanden zwischen 1980 und 2000. Ein Jahr später starb er im Alter von 53 Jahren an Lungenkrebs. Die Gelegenheit, sich mit den wichtigsten seiner Filme vertraut zu machen, ermöglicht auch, einen entscheidenden Brückenschlag im japanischen Kino zu verstehen. Denn gerade die 80er-Jahre sind darin häufig einseitig überliefert. Der alte Meister Akira Kurosawa war damals noch aktiv und massgeblich, der radikale Nagisa Oshima hatte sich gründlich durch fast alles Tabus der japanischen Gesellschaft gearbeitet.
Shinji Somai aber ging es weder darum, die alten Traditionen in die Gegenwart zu überführen, noch, sie zu entsorgen. Er interessierte sich dafür, wie sich das moderne Japan anfühlte, er wollte die kleinen Veränderungen registrieren, meist aus der Perspektive von Jugendlichen oder Kindern. So zum Beispiel der Umstand, dass Ehen nun auch in Japan nicht mehr bis zum Tod dauern mussten. Renko ist ein Scheidungs-oder Trennungskind, und damit eine Epochenfigur – sie wurde von Tomoko Tabata in ihrer allerersten Rolle fulminant gespielt.
Bei Yasujiro Ozu, dem wichtigsten unter den japanischen Klassikern, war die Familie der Resonanzraum für die enormen Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Bei Shinji Somai gibt es tendenziell schon keine Familien mehr. Die jungen Leute müssen sich selbst zurechtfinden. Besonders dramatisch in Typhoon Club (1985), in dem er von einer Gruppe von Schüler:innen erzählt, an einem Tag, an dem ein Sturm angekündigt ist. Die nahende Gefahr löst offenkundig ein wenig die Verbindlichkeit des Regelwerks. Die Jugendlichen überschreiten Grenzen, ein Mädchen fährt nach Tokio, will dann aber doch nicht bei dem Studenten übernachten, der es mit zu sich nach Hause nimmt. Shinji Somai filmt oft durch Fenster oder Vorhänge, als wäre er halb dabei und halb auf Distanz. Und in dieser Ambivalenz hält er dann auch eine lange Schlüsselszene, in der ein Junge eine Klassenkollegin durch die nahezu leere Schule treibt, in einer ansatzweisen Vergewaltigung, die aber auch noch irgendwie kindliches, ratloses Spiel ist.
Im Jahr 2023 lief Typhoon Club in einer Retrospektive über Coming-of-Age-Filme bei der Berlinale. Ausgesucht hatte ihn Ryusuke Hamaguchi, der damals in der Begründung schrieb,
dass ihn die Kinder bei Shinji Somai an ihn selbst erinnerten – er sah in dem Drama etwas Universelles, ungeachtet des deutlich japanischen Kontexts. Hamaguchi ist heute einer der wichtigsten Chronisten seines Landes, und er ist in seiner Themenwahl und mit seinen Figuren deutlich der modernen Phase zuzurechnen. Zum Beispiel in Drive my Car, nach einer Vorlage von Haruki Murakami. Der Autor weltweiter Bestseller ist ja bekannt für seine odd couples, hier gibt es ein besonders markantes: der Theatermacher Yusuke Kafuku und die Chauffeurin Misaki Watari. Sie sind im Verlauf des Films sehr oft in einem roten Saab Turbo unterwegs, einem Liebhaberauto, das beinahe so etwas wie das Medium des Films ist. Yusuke ist nach Hiroshima gekommen, um hier einen «Onkel Wanja» von Tschechow zu inszenieren. Das Markenzeichen seiner Arbeit ist, dass er den Text auf Sprecherposition in unterschiedlichen Sprachen verteilt. Er besetzt sogar eine Frau, die sich in koreanischer Zeichensprache verständigt. Auf dem Weg von und zur Arbeit spielt er immer eine Kassette, auf der der Text von «Onkel Wanja» zu hören ist, abzüglich der Rolle, die er selbst spielen soll. Bis auf die Sekunde genau sind diese Auslassungen auf seinen Duktus und seinen Atem eingestellt. Zudem ist diese Kassette eine Hinterlassenschaft seiner Frau, die zwei Jahre zuvor überraschend gestorben ist.
Im Vergleich zu der häufig spontan wirkenden Unmittelbarkeit bei Shinji Somai ist Hamaguchi ein Filmemacher, der vielfache Ebenen etabliert. In Evil Does not Exist spürt man eine grundsätzliche Kritik vieler Ausprägungen des modernen Lebens, wenn in einem Wald ein Resort für glamouröses Camping errichtet werden soll. Hamaguchi hält jedoch nicht einfach ein simples Leben mit der Natur dagegen, sondern er macht in der Form der Erzählung erkennbar, wie sehr sich verschiedene Auffassungen des Lebens aneinander reiben. Und er behält dabei die einfache Abfolge des klassischen Erzählkinos bei, verzichtet also auf allzu offensichtliche Brüche und irritierende Signale.
Wenn man ein wenig mit der internationalen Filmgeschichte vertraut ist, dann wird es mit jedem Film faszinierender, wie sich weltweit bestimmte historische Konstellationen gleichen. In Hollywood gab es das grosse Studiokino mit John Ford, Howard Hawks oder George Stevens. In Japan entspricht dieser Epoche das Goldene Zeitalter mit Yasujiro Ozu, Mikio Naruse oder Kenji Mizoguchi. Die Popkultur und die gesellschaftliche Liberalisierung haben diese Ordnung aufgelöst, heute ist alles möglich. Doch was waren die Stationen auf diesem Übergang? Für Japan wird Shinji Somai heute zunehmend als ein lange «fehlendes Glied» gesehen, das diesen Übergang verstehen lässt. In Japan ist das Zusammenleben nach wie vor stärker gebunden an Codes und Verhaltensformen, das sieht man nicht zuletzt an den Filmen von Hirokazu Kore-eda, der wie Somai eine Vorliebe für Kinder als Figuren hat. Bei Somai aber ist ein Element schon gegenwärtig, das eben die Phase des Übergangs in das Erwachsenenalter so turbulent werden lässt: die Sexualität. Das japanische Kino hatte lange Zeit nur sehr verschlüsselt vom Eros erzählt, die Generation von Oshima hat das dann zum Teil skandalös geändert. Danach bedurfte es aber eines neuen Ansatzes.
Und wenn man nun sieht, wie bei Somai die jungen Menschen mit ihrem Begehren experimentieren, in manchmal schockierend intimen Szenen, dann begreift man erst, wie mutig dieses Kino ist. Mutig auch von den Darsteller:innen, die sich zwar nicht entblössen, die aber viele Momente spielen, die sich sonst oft in der Einsamkeit des Jugendzimmers abspielen – eine Masturbationsszene etwa, die zugleich ein Hilferuf nach der abwesenden Mutter ist, in Typhoon Club. Shinji Somai ist in solchen Momenten auf eine Weise präsent, die man als solidarisch bezeichnen könnte. Das Kind, das wir immer bleiben, wie Ryusuke Hamaguchi betont, findet ein Gegenüber in einem Erwachsenen, der sich nicht mit seinem Wissen dazwischen drängt. Hamaguchi nimmt diese Figuren gleichsam in der Mitte des Lebens in Empfang, zum Beispiel die vier Frauen in Happy Hour (2015), alle Angehörige der Mittelklasse, alle Ende dreissig, alle im Begriff, sich neu zu orientieren.
Somai und Hamaguchi zusammen zu schauen, das erlaubt einen faszinierenden Blick darauf, wie sich individuelle und gesellschaftliche Entwicklung immer verschränken. Werden wir jemals erwachsen? Von den Kindern, die wir im Kino sein können, müssen wir uns zum Glück niemals unabhängig erklären.
Bert Rebhandl ist freier Journalist, Autor und Übersetzer. Er ist Filmkritiker für die Frankfurter Allgemeine Zeitung sowie Mitbegründer und Mitherausgeber der Zeitschrift CARGO Film/Medien/Kultur.
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