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Filmreihe

 
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Andrea Arnold

«Do you have any dreams?»


Wünsche haben, wachsen, allen Umständen zum Trotz. Die Heldinnen der britischen Regisseurin Andrea Arnold kommen vom Rand der Gesellschaft, müssen sich ihren Platz in der Welt erkämpfen. Arnolds Filme erzählen vom Ausbrechen aus dem Fish Tank grimmiger Beton-Plattenbauten. Vom Träumen um eine bessere Zukunft in American Honey, auf einem Roadtrip durch den Mittleren Westen, dort wo der «american dream» ausgeträumt scheint. Oder geben Einblick in das Leben einer Milchkuh namens Luma, der Arnold mit Cow das vielleicht zärtlichste Portrait widmet, das je einem Nutztier im Film zuteilwurde. Ein physisches, aufrüttelndes Kino in ständiger Bewegung, dem die Filmwissenschaftler:innen Kristina Köhler und Guido Kirsten am 28. April mit einem Gesprächsabend nachspüren.

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Gebannt starrt Jackie (Kate Dickie) auf die Bildschirme an der Wand. Mit dem Schalthebel in der rechten Hand navigiert sie routiniert das Geschehen. Ihre Augen sind offen, der Blick konzentriert. Ihr Job als Sicherheitsbeamtin in Glasgow verlangt von ihr, eine Reihe von Überwachungskameras zu bedienen, die verschiedene Orte und Gebäude überwachen, darunter auch eine heruntergekommene Hochhaussiedlung mit Graffiti und voller Müll. Unweigerlich erinnert die schweigsame Beobachterin an den vorübergehend an den Rollstuhl gefesselten Fotografen, gespielt von James Stewart, der in Hitchcocks Rear Window (1954) seine Hofnachbarn beobachtet. Ähnlich wie er wird auch Jackie in Red Road (2006) bald von einer bestimmten Person besessen sein, die sie zu erkennen glaubt und für einen Kriminellen hält. Und weil sie niemandem anvertraut, was sie weiss, vermutet oder zu tun gedenkt, verrät es uns auch Andrea Arnold, die Regisseurin dieses fesselnden Thrillers, nicht.

Überhaupt ist Arnold eine Meisterin des Nicht-Ausgesprochenen. Auch in Interviews sagt sie stets nur das Nötigste. Doch es scheint, als wolle sie damit weniger sich selbst als ihre Figuren schützen, die ebenfalls meist mit sparsamsten Dialogen auskommen und damit grösstmögliche Wirkung erzeugen. Zur wahren Kunst erhoben hat die 1961 im englischen Kent geborene  Filmemacherin ihre Methode zuletzt in ihrem ersten Dokumentarfilm Cow (2021), in dem sie einer Milchkuh namens Luma eines der schönsten und zärtlichsten Porträts gewidmet hat, das je einem Nutztier zuteilwurde. Was nicht heissen soll, dass der Film die brutale Wirklichkeit von Massentierhaltung und Mord ausspart, in der sich Luma bewegt. Arnolds Kamera ist immer ganz nah dran, um den Alltag der Kühe auf dem Bauernhof zu beobachten, wenn sie muhen und grasen, Kälber gebären oder mit geheimnisvoller Gelassenheit in die Kamera starren. Manchmal sehen wir sie auch nachts, in einer exotisch anmutenden Totale: Kühe, die sich vor den Bäumen im Mondlicht abzeichnen. Von Menschen keine Spur. Nur ihre Stimmen mischen sich im Verlauf des Films immer wieder aus der Ferne in die Geräuschkulisse. Erst ganz zum Schluss rücken sie auch physisch ins Bild – und man ahnt, dass ihr Erscheinen nichts Gutes verspricht.

Zu Arnolds Erstaunen bezeichnen Kritiker ihre Filme gerne als düster, als ob sie die Kämpfe ihrer Figuren irgendwie übertreiben oder ausstellen würde. Dabei ist es vielmehr eine innere Unruhe im Herzen, die aus ihren Filmen spricht. «Ich bin in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen», so erklärt sie es selbst, «man könnte also sagen, ich schreibe über das, was ich kenne.» Dazu gehört in erster Linie die Geschichte hinter ihrem hochgelobten Drama Fish Tank (2009), das sich um eine ungestüme 15-Jährige dreht, die sich gegen ihre Umstände auflehnt. Gespielt wird die junge Mia von der damaligen Newcomerin Kate Jarvis, die in jeder Szene mit emotionaler Intensität agiert und sich mit ihrer ganzen spröden, puren Körperlichkeit schonungslos in die Rolle stürzt. Arnold erzählt derweil, wie sich Mia in Conor (Michael Fassbender), den neuen Lover ihrer Mutter, verliebt. Die sexuellen Spannungen, die sich daraus ergeben, elektrisieren die Stimmung und sie sind oftmals der einzige Lichtblick in Mias Alltag, der ansonsten von den bissigen verbalen Auseinandersetzungen mit ihrer Familie, jeder Menge Teenage-Trouble und einem akuten Gefühl des Alleinseins geprägt ist.

Arnolds kantiger Stil und ihr feines Gespür für Aussenseiterinnen und ihre Probleme erinnern an eine ältere Generation sozial engagierter britischer Filmemacher, zu der etwa Ken Loach und Alan Clarke gehören. Aber man würde es sich zu leicht machen, in der Richtung nach offensichtlichen Gemeinsamkeiten zu suchen und oberflächliche Parallelen zu ziehen. Mit jedem Film begibt sich die Regisseurin und Drehbuchautorin auf eine persönliche Reise, die bei ihr selbst beginnt und sich nach aussen bewegt. Der soziale Blick, mit dem sie ihre Figuren und deren Umstände betrachtet, ist stets präsent, ohne aufdringlich zu wirken. Vielmehr konzentriert sich ihr Fokus auf die Orte, in denen ihre Protagonist:innen leben, seien es die verarmten Plattenbauten und klaustrophobischen Innenräume in Red Road oder die weiten Ebenen, endlosen Highways und Mega-Malls des Mittleren Westens in American Honey (2016), ihrem bisher international grössten Erfolg.

Die Idee zu einem modernen, amerikanischen Roadmovie kam Arnold 2012, kurz nachdem sie beim Sundance Filmfestival im verschneiten Bergland von Utah für ihre gewagte Literaturverfilmung von Emily Brontës Roman Wuthering Heights gefeiert wurde. Bei der Abreise konnte sie sich nicht von den Bildern, den Eindrücken und Emotionen trennen, die das Land in dem Moment bei ihr hinterliess. Und so machte sie sich zunächst selbst auf den Weg durch den Süden, durch die Mitte, überall, wo sie hinkommen konnte. Das Ergebnis ist ein Film, der mit einer enormen Beobachtungsgabe auf ein von wirtschaftlichen und sozialen Realitäten gebeuteltes Amerika von heute blickt und erneut von einer jungen Frau erzählt, die verschwiegen und gebrochen ist. Diesmal ist es Sasha Lanes freiheitshungrige Star, die sich einer Gruppe durchs Land cruisender, Zeitschriftenabonnements verkaufender Teenager anschliesst, um herauszufinden, ob und wie sie sich mithilfe aller ihr zur Verfügung stehender Mittel – ihrem Verstand, ihrer Ausdauer, ihrer Sexualität – aus den Trümmern ihrer Jugend in ein besseres Leben retten kann.

Für Arnold selbst führte der Weg aus der britischen Unterschicht über die nationale Unterhaltungsindustrie. Sie war das älteste von vier Kindern - ihre Eltern waren selbst noch minderjährig, als sie geboren wurde. Bereits mit 10 Jahren fing sie an, Geschichten zu schreiben, mit sechzehn brach sie die Schule ab. Anschliessend heuerte sie zunächst als Tänzerin bei der von der BBC produzierten Chart-Sendung Top of the Pops an, bevor sie eine mehrjährige Fernsehkarriere als Rollschuh fahrende TV-Moderatorin der Kindersendung No. 73 begann. Doch auch die Drehbücher für ihre ersten Kurzfilme – Milk (1998), Dog (2001) und Wasp (2003) – verfasste Arnold bereits in dieser Zeit, auch wenn sie erst später, während und nach ihrem Regiestudium am American Film Institute in Los Angeles, erstmals hinter die Kamera trat.

Heute wird Arnold in ihrer Heimat stets gerne als Aushängeschild für die aufregendsten weiblichen Regiestimmen von der Insel präsentiert. Wie herzlich wenig sie von derartigen Kategorisierungen und den zahlreichen renommierten Auszeichnungen hält, die ihr im Laufe ihrer Karriere verliehen wurden, ist bekannt. Schon ihren Oscar für Wasp kommentierte sie damals mit den Worten, der Preis sei «the dog’s bollocks», was, gut gemeint, so viel wie völliger Schwachsinn heisst.

Es sind ihre Filme, die immer wieder für sich sprechen. So wie auch Wuthering Heights (2012), in dem die Regisseurin und ihr Kameramann Robbie Ryan die literarische Vorlage gnadenlos auf das Wesentliche reduzieren: die Liebe, die Wut, den Schmerz. Arnold erweist dem Material einen sinnlichen Respekt, indem sie ihren Film weniger historisch als atmosphärisch anlegt, um die Natur, die Landschaft, das Yorkshire des 19. Jahrhunderts unmittelbar fühlbar zu machen. Die Welt, in die sie ihr Publikum mitnimmt, ist elementar, ja, fast urzeitlich. Zudem wird der Waise Heathcliff, der im Roman eine enge, leidenschaftliche Beziehung zu der jungen Catherine eingeht, hier auch nicht als der exotische «dark-skinned gipsy» dargestellt, der er bei Brontë ist. Bei Arnold ist er ein Schwarzer, der sich mit dem offenen und brutalen Rassismus seitens seiner neuen Familie und deren Umfeld konfrontiert sieht. Ihre Liebesgeschichte ist die zwischen Seelenverwandten, zwischen zwei Outsidern in einer ungerechten, rigiden Welt. Und ihre Blicke und Gesten erschaffen eine Stimmung der tiefer liegenden Spannungen, die von sehr viel mehr erzählen, als sie auf den ersten Blick preisgeben.

Zum Schutz ihrer selbst entwickeln Arnolds Figuren eine harte Schale, die sie trotzdem nicht immer vor dem Schlimmsten bewahrt. Aber der unsichtbare Panzer, den sie sich zulegen, macht sie widerstandsfähig und resistent. Harmlose Engel sind sie gewiss nicht. Sie ringen mit ihren Ängsten, ihren Sehnsüchten, ihrem Gewissen. Und Arnold versteht es, ihnen tief ins Innerste zu schauen, ohne sie jemals blosszustellen oder zu verraten.
 

Pamela Jahn ist freie Autorin und Journalistin. Sie schreibt u.a. für das ray Filmmagazin, FAQ und Filmbulletin. Sie lebt in London und ist dort auch als Übersetzerin und Filmkuratorin tätig.

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