LES MILLE SOLEILS DE MATI DIOP
Oszillieren zwischen Heimat, Exil, Geschichte und Identität. Zwischen Fiktion und Dokumentation. Die Filme der französischen Regisseurin und Schauspielerin Mati Diop sind auch in ihrer Biografie begründet: Wie ihre Mutter ist sie in Paris geboren, während die Wurzeln ihres Vaters im Senegal liegen. In Atlantique erzählt sie von einer Liebesgeschichte in Dakar, von Weggehen und Verlassenwerden. Oder in Dahomey von einem Akt der Restitution von 26 Raubkunstwerken: Nach 132 Jahren kehren sie aus Paris nach Porto-Novo ins heutige Benin zurück. Mati Diops Onkel war der senegalesische Regisseur Djbril Diop Mambéty, Regisseur des bahnbrechenden Films Touki Bouki (1973), mit dem sich Mati Diop in Mille Soleils auseinandersetzt. Und auch hier findet Mati Diop im vielschichtig Alltäglichen das traumhaft Magische.
mehrMATI DIOP – PARIS – DAKAR – PORTO-NOVO
Heimat ist ein grosses Wort, schwer zu fassen und zu verstehen. Die Vorstellung, wo und was Heimat sein kann, ist immer subjektiv, sie entzieht sich jeder Definition. Hinter dem Begriff verbirgt sich ein Gefühl, eine Sehnsucht, eine Erinnerung. Manchmal eine Angst. Oder eine Hoffnung.
In den Filmen von Mati Diop ist Heimat ein Zauber, nicht greifbar, aber immer da. Langsam schwenkt die Kamera über den tiefschwarzen Ozean und plötzlich ist Zuhause kein Ort mehr. Die Zukunft liegt in der Ferne, in Europa. So empfinden es zumindest die junge Senegalesen in Diops atemberaubendem Spielfilmdebüt Atlantique (2019), als sie von Dakar aus die gefährliche Reise nach Spanien mit dem Boot wagen – und als Geister zurückkehren. Gefangen in der Ewigkeit, zwischen Raum und Zeit.
Diop wurde 1982 in Paris geboren. Sie ist die Tochter einer französischen Fotografin und Kunsthändlerin; ihr Vater, der Sänger, Gitarrist und Filmkomponist Wasis Diop, stammt aus dem Senegal. Aber ihre künstlerischen Wurzeln reichen noch tiefer: Als Nichte des 1998 im Alter von nur 53 Jahren viel zu früh verstorbenen Regisseurs, Schauspielers und Dichters Djibril Diop Mambéty hat Mati Diop ihre persönliche Filmarbeit darauf ausgerichtet, das Erbe ihres Onkels anzutreten. Sein Regiedebüt von 1973, Touki Bouki, ist bis heute eines der bedeutendsten Werke der afrikanischen Filmgeschichte überhaupt. Diops Kino setzt dort an, wo Mambéty aufgehört hat: In atmosphärisch dichten Bildern voller Sinnlichkeit und Sensibilität erzählen ihre Filme, ob kurz oder lang, von Freiheit und Gefangenschaft, Recht und Unrecht, Liebe und Tod. Das Geheimnisvolle, Nachdenkliche, die Kühnheit ihrer Werke, all das hat eine eigene, auch eigenwillige Qualität. Die Wirkung ist überwältigend – und preisverdächtig: 2019 wurde sie mit Atlantique als erste schwarze Regisseurin in den Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes eingeladen und direkt mit dem Grossen Preis der Jury geehrt, der zweitwichtigsten Auszeichnung des Festivals. Im Februar dieses Jahres erhielt sie bei der Berlinale den Goldenen Bären für ihr jüngstes Werk Dahomey.
Ähnlich wie in Atlantique erzählt Diop darin von einer Rückkehr der besonderen Art. Es geht in dem verblüffenden Hybrid aus Dokumentation, Science-Fiction und Imagination um die Restitution von Kulturgütern. Denn das Erbe des Kolonialismus ist ein Thema, das der Regisseurin besonders unter den Nägeln brennt: «Einerseits ist es ungreifbar wie ein Gespenst», erklärte Diop vor kurzem in einem «Spiegel»-Interview. «Andererseits hat es direkte Auswirkungen auf das Leben von Menschen.» Dahomey ist ein Versuch der Annäherung, formal und inhaltlich.
Der Film verfolgt, wie im Herbst 2021 insgesamt 26 Kunstwerke aus dem Bestand des Pariser Museums Quai Branly an deren rechtmässigen Besitzer zurückgegeben wurden, das westafrikanische Land Benin, ehemals Dahomey. Unschuldig gefangen waren die Hauptfiguren im Zentrum dieser politischen Tragödie, 130 Jahre lang – darunter auch eine hölzerne Statue von König Gezo, der Mitte des 18. Jahrhunderts in Dahomey regierte. Ein Kunstwerk von ergreifender Würde und Anziehungskraft. Man sieht, wie der einstige Herrscher mit grösster Sorgfalt für den Transport in die beninische Hauptstadt Porto-Novo vorbereitet wird. Doch kaum ist er in der hölzernen Kiste verstaut, wird auch die Leinwand schwarz. In der Dunkelheit erklingt die verzerrte Stimme des alten Königs, der aus dem Off seiner Empörung Luft macht. Später kommen in einer regen Universitätsdebatte verschiedene junge Menschen zu Wort. Im Auditorium treffen gegensätzliche Meinungen aufeinander, die sich im Zuge der Dekolonialisierung auf kultureller, gesellschaftlicher und politischer Ebene stellen. Aus den vielstimmigen Argumenten der Studierenden sprechen Zuversicht, Enttäuschung und Wut.
Das vereint sie auf geheimnisvolle Weise mit den jungen Menschen in Atlantique. Diops Spielfilmdebüt ist Romeo- und-Julia-Romanze, Krimi und griechische Tragödie in einem, inszeniert als mitreissender Fiebertraum. In der ebenso seltsamen Mischung aus Wirklichkeit, Mystik und Poesie gelingt der Regisseurin hier das Aussergewöhnliche: ein zutiefst persönlicher Blick auf eine übergreifende transnationale Identität.
Die Regiearbeiten von Mati Diop sind dem Geist und dem Werk ihres Onkels auf allen Ebenen verbunden. In den Überschneidungen entwickeln sie eine verblüffende Dynamik und Unbefangenheit. Schon Djibril Diop Mambéty erzählte in Touki Bouki von einem jungen Paar, das, enttäuscht von den ausgebliebenen Versprechungen der Unabhängigkeit, ihr Glück in Frankreich zu finden hofft. Allein das Geld für die Schiffstickets fehlt ihnen. Doch Mory kommen rasch die verwegendsten Ideen, um ihren Traum in die Tat umzusetzen – Betrug, Diebstahl, Prostitution, dem jungen Viehhirten ist alles recht. Wie Bonnie und Clyde rast er mit seiner Freundin Anta auf dem Moped durch die Strassen von Dakar, verzweifelt auf der Suche nach einem Ausweg aus der Stadt, aus diesem Leben. Mambétys erschütternder Film ist wild und bunt, ungeniert und voller Leidenschaft.
Es ist die gleiche Lust am Ungehorsam, die in Mati Diops Filmen dominiert. Der faszinierende Unterschied liegt in der weiblichen Perspektive: Diop hat ihr Handwerk nicht nur von Mambéty gelernt, sondern auch von Claire Denis, in deren Familienstudie 35 rhums sie 2008 ihr Kinodebüt als Schauspielerin gab. Die enge Bindung zu der französischen Regisseurin hielt über die Jahrzehnte; 2022 stand Diop erneut für Denis vor der Kamera, in dem Beziehungsdrama Avec amour et acharnement, diesmal an der Seite von Juliette Binoche und Vincent Lindon.
Ihren ersten Kurzfilm drehte Diop 2004 und hat sich über die letzten 20 Jahre neben der Schauspielerei immer wieder an kleineren Projekten ausprobiert. Ihre Kurz-Doku Mille Soleils (2013) etwa nimmt auf einer Metaebene Bezug auf Touki Bouki. Denn Mambétys Schauspieler:innen teilten ironischerweise dasselbe Schicksal mit Mory und Anta im Film: Marème Niang (Anta) zog in den Westen, während Magaye Niang (Mory) in die Heimat zurückkehrte, um wieder Zebus zu hüten. Diops Film erzählt ihre ungewöhnliche Geschichte sozusagen im Verité- «Freistil», indem sie auch hier Fantasie und Realität miteinander verschmelzen lässt.
Mambéty selbst hat die Geschichte seines erfolgreichen Regiedebüts zwei Jahrzehnte später in Hyènes (1992) fortgesetzt. Darin greift er auf Friedrich Dürrenmatts berühmte tragische Komödie «Der Besuch der alten Dame» zurück, verlegt die Handlung jedoch in ein Dorf im Senegal. Aus dem beschaulichen Güllen wird in seiner Version der Wüstenort Colobane, die reiche, rachsüchtige Dame heisst hier Linguère Ramatou. An der Zeitlosigkeit des Stoffs über die Korrumpierbarkeit und Gier der Menschen ändert das nichts, fügt der bitter-komischen Geschichte jedoch einige äusserst spannende Konnotationen hinzu, wenn sich schliesslich die komplette Gemeinde für Geld in Mörder verwandeln lässt.
Es sind die Fragen nach dem «Woher?» und «Wohin?», nach Identität, Zugehörigkeit und dem kuturellen Erbe, die in der Familie von Mati Diop seit ihrer Kindheit eine zentrale Rolle spielen. Neben der Kraft und Schönheit der Bilder, die davon erzählen, übt auch die Musik stets grossen Einfluss auf die emotionale Wahrnehmung aus. Ausschlaggebend dafür ist Diops kreativer Draht zu ihrem Vater. Für seinen Song «Voyage à Paris» drehte sie 2021 ein Musikvideo, das neben einer rhythmischen Reise durch die nächtliche französische Hauptstadt gleichzeitig eine feinsinnige visuelle Hommage an seine Kunst ist. Kompositionen, Klänge und Melodien – ob traditionell oder futuristisch – erzeugen in Diops Filmen tonale Stimmungen, die eine eindringliche Wirkung auf die Seele entfalten. Denn auch Musik kann Heimat sein. Manchmal sogar mehr als jedes Bild, jedes Wort und jeder Ort.
Pamela Jahn ist freie Autorin und Journalistin. Sie schreibt u.a. für das «ray Filmmagazin», die «Neue Zürcher Zeitung» und das «Filmbulletin». Sie lebt in London und ist dort auch als Übersetzerin und Filmkuratorin tätig.