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Filmreihe

 
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Jacques Audiard

Un prophète


Erst spät ist er ins Regiefach eingestiegen. Nach ersten Schritten als Schnittassistent und langen Jahren als Drehbuchautor erregte Jacques Audiard Mitte der 90er-Jahre mit Regarde les hommes tomber und Un héros très discret erste Aufmerksamkeit als Regisseur, feierte mit De battre mon cœur s’est arrêté 2005 seinen internationalen Durchbruch und gilt inzwischen längst als einer der vielseitigsten Vertreter des zeitgenössischen französischen Kinos. Seine Werke gleichen pulsierenden, filmischen Entwicklungsromanen, in denen gestrauchelte Helden dramatische Transformationen durchlaufen. Dabei spielt er virtuos mit der Klaviatur der Genrekonventionen, vermengt Gangsterfilm mit Sozialdrama (Sur mes lèvres), Sozialdrama mit Beziehungsmelodram (De rouille et d’os), Gefängnisfilm mit Gesellschaftsanalyse (Un prophète) oder sattelt ein Flüchtlingsdrama kurzerhand zum Thriller um (Dheepan).

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Nun hat er sich mit seinem ersten englischsprachigen Film The Sisters Brothers den Western vorgeknöpft und zäumt auch diesen neu auf. Das Stadtkino Basel feiert den famosen Genre-Dekonstrukteur mit einer umfassenden Werkschau seiner bisherigen Regiearbeiten.

 


Selbst ein unbestimmter Artikel kann bei Jacques Audiard eine Assoziation auslösen: Nicht «Der Prophet», nein, Ein Prophet heisst sein bislang eindrücklichstes Werk. Un prophète (2009) ist ein Wunder von einem Film: ein Wunder der Kohäsion von härtestem Gefängnis-Realismus, selbstreflexivem Erzählduktus und magischer Bildpoesie, ein wundersames Zusammendenken von schonungsloser Gewalt und gewagter filmischer Schönheit. Der 19-jährige Malik, stupend gespielt vom damaligen Anfänger Tahar Rahim, ist ein ungebildeter, jedoch intelligenter und phantasiebegabter Kerl. Als er eingesperrt wird, ist alles an seinem Körper zunächst auf Konfliktvermeidung angelegt. Doch in den jahrelangen Mühlen der psychohygienelosen Selbstverwaltung in einem Haftsystem, das längst kapituliert hat – und das selbstverständlich als Spiegel der freien Gesellschaft angelegt ist –, kann so einer nur eine kriminelle Entwicklung nehmen. Es wird eine erfolgreiche sein.

 

In Un prophète macht Jacques Audiard, was er in den meisten seiner Filme macht. Er zeigt einen Lernprozess, knüpft dabei an ein Genre an und transzendiert dieses auf ganz eigentümliche Weise. Hier ist es ein Genre, mit dem Audiard schon aufgrund seiner Sozialisierung besonders gut vertraut ist: der französische Gangsterfilm. Sein Vater Michel hatte viele Drehbücher geschrieben, die zu Filmerfolgen wurden, war u.a. Dialogautor für Jean-Paul Belmondo, den vielleicht grössten Action-Star in der Geschichte des Kinos der Grande Nation. Le professionnel (1981, Georges Lautner) etwa zählt, nicht zuletzt natürlich ob Ennio Morricones eingängiger Titelmelodie, zu Belmondos bekanntesten Filmen. Der Thriller um einen düpierten Agenten markiert die erste von zwei Drehbuch-Kollaborationen von Vater und Sohn Audiard (neben Claude Millers Krimi Mortelle randonnée), die auch ein Quereinstieg in den Beruf, also ein Lernen durch Handeln, miteinander verband. Eine der ersten Filmarbeiten Jacques Audiards war zuvor die Montage-Assistenz bei Roman Polanskis Psychohorrorstück Le locataire (1976) gewesen, damals war er bereits Mitte zwanzig.

 

Eine Vater-Sohn-Geschichte steht fast dreissig Jahre später im Zentrum von De battre mon cœur s’est arrêté (2005; einer dieser wunderschönen Audiard-Filmtitel, in der deutschen Übersetzung verdreht zu Der wilde Schlag meines Herzens). Stammkraft Niels Arestrup gibt den Vater (in Un prophète wird er der Ersatzvater sein), in einer für Audiard prototypischen, exzessiven Szene überrumpelt er seinen Sohn Tom und zwingt ihn, an seiner Stelle die Drecksarbeit einer gewaltvollen Mieteintreibung zu verrichten. Darin kommt dann auch der Hass auf den Vater zum Ausdruck. Der Vater indes spürt, dass ihm der Sohn, der plötzlich Pianist sein möchte, mehr und mehr abhanden kommt.
De battre ist das lose Remake eines B-Movie-Kultfilms (Fingers, 1978, James Toback), wie durch ein Brennglas lässt es die Qualitäten erkennen, die Audiards Werke überhaupt ausmachen. Zum einen ist das ein intensives, physisches Schauspiel voller Körperspannung und unvermuteter Entladung – die Schicksale der Menschen und ihre Art, damit umzugehen, sind sozusagen in den Leibern und deren Energiefeldern angelegt. Stark spürbar wird das zum Beispiel in der von Emmanuelle Devos verkörperten, gehörlosen Büroangestellten in Sur mes lèvres (2001) – auch so eine geniale Genre-Verbindung, in diesem Fall von Thriller, Drama, Krimi, Film noir und Love Story. Es war Audiards Durchbruch als Regisseur, im Grunde finden sich mehr oder weniger gewichtige Genre-Elemente in fast allen seiner Filme. Wobei er die anderen Genres zumeist als eine Art trojanisches Pferd nutzt, um schliesslich die Liebesgeschichte als Herzstück herauszustellen.


Stets trachtet der Auteur Audiard, den Rhythmus und die Montage seiner Filme den Befindlichkeiten seiner Protagonisten anzupassen. Tom in De battre, fabelhaft verkörpert von Romain Duris, ist fahrig, nervös, sprunghaft, und so ist der Film auch geschnitten, die Montage spiegelt seine innere Unruhe. Tom ist hin- und hergerissen zwischen seiner anerzogenen und jener Profession, die er zu lernen hofft – Audiard verstärkt diesen Eindruck durch einen kurzatmigen Rhythmus, unvermittelt wechseln die Schauplätze, wirkt das eine Feld in das andere hinein.

 

Audiard lässt die Helden seiner filmischen Bildungsromane nicht, wie im Genre des Halbseidenen häufig, am Ende einer Sackgasse an die Wand fahren. Vielmehr lässt er ihr Schicksal offen, nicht selten hilft er ihnen gar aus der Sackgasse heraus, und zumeist stellt die Liebe den Motor für den Ausweg dar. Sur mes lèvres etwa, im Übrigen einer der humorvollsten Filme Audiards, bei nichtsdestoweniger violenten Anklängen, lässt seine ungleichen Aussenseiter – trotz gegenteiliger Pläne des von Vincent Cassel dargestellten jungen Gangsters – nach dem Showdown ein Paar bleiben. Tom in De battre darf vom herablassenden, halbkriminellen «loan shark» zwar nicht zum gefeierten Pianisten reifen, kann aber nach einem befreienden Racheakt das ihn zerfressende Milieu mutmasslich hinter sich lassen und mit seiner Klavierlehrerin in eine bessere Zukunft gehen. Marion Cotillard in De rouille et d’os (2012) überwindet ihre Depression nach dem Verlust ihrer Beine, indem sie ihren Körper wieder jenem Medium überlässt, in dem sie sich vor dem Unfall als Orca-Trainerin am wohlsten gefühlt hat. Eine einzigartige, wahrscheinlich eine der grössten Liebesgeschichten der jüngeren Zeit (geschrieben mit seinem Ko-Autor Thomas Bidegain, es war die bislang letzte Zusammenarbeit mit Kameramann Stéphane Fontaine), überzeugt De rouille et d’os auch als Ode an das Leben, als Plädoyer wiederaufzustehen, wie oft auch immer man schon niedergeboxt wurde. Der von Matthias Schoenaerts verkörperte Ali führt das mit seinem Faible für Faustkämpfe buchstäblich vor Augen.

 

Der bislang erfolgreichste Film Jacques Audiards, weil mit der Goldenen Palme von Cannes prämiert, ist zugleich sein umstrittenster. Das affektbetontere Autorenkino hat in jüngerer Zeit kaum einen wuchtigeren gesehen: das Flüchtlingsdrama Dheepan (2015). Zur üblich mobilen, an die Wahrnehmung und Bewegung der Protagonisten angehängten Kameraführung, zu Blickverengungen und Fokusverschiebungen gesellt sich hier eine vibrierende, geradezu elektrische Aufladung. Der einstige Tamil-Kämpfer Dheepan sieht seine auf der Flucht aufgegabelte Scheinfamilie in der neuen Heimat neuerlich bedroht. In seinem heruntergekommenen, von Drogenbanden beherrschten Pariser Sozialwohnblock baut sich eine unterschwellig gefährliche Atmosphäre auf, deren Eruption Dheepans Wunden aus dem Bürgerkrieg in Sri Lanka wieder aufzureissen drohen.
In Dheepan gibt es, wie in jedem Audiard-Film, gegen Ende ein Überraschungsmoment. Hier ist es eine geradezu surreal optimistische Note. In den meisten anderen seiner Filme ist es eine Wendung, die zwar nicht alles auf den Kopf stellt, aber doch eine Art Zäsur markiert. Häufig haftet diesen Wendungen etwas Mysteriöses an, so als wollte Audiard erzählen, dass die Entwicklung einer Figur nie an ihr Ende gelangt, nur weil sein Film ans Ende gelangt. Was aber kommt als Nächstes in der Entwicklung Jacques Audiards, der auch als gereifter Regie-Meister im Alter von 67 Jahren ein ewiger Eleve bleibt? Mit The Sisters Brothers hat er jüngst einen grandiosen – und wie bei Audiard längst üblich mit mehreren Césars ausgezeichneten – Western gedreht. Man darf gespannt sein, mit welchem Genre-Mix einer der vielfältigsten Filmkünstler der Gegenwart sein Publikum als Nächstes in Erstaunen versetzen wird.

 

Roman Scheiber

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