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Filmreihe

 
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Ildikó Enyedi

Von der Logik der Träume


Ihre Karriere begann mit einem Paukenschlag, als sie 1989 in Cannes für ihr Debüt My Twentieth Century ausgezeichnet wurde. Mit dem zauberhaft-versponnenen und zugleich feministisch-kämpferischen Vexierspiel um Zwillingsschwestern in der Silvesternacht 1899 etablierte sich Ildikó Enyedi als eine der interessantesten Filmregisseurinnen des postkommunistischen Ungarn. Poetischer Realismus, Melancholie und Magie prägten auch ihre Folgewerke der 90er-Jahre wie Magic Hunter – für den sich David Bowie als Darsteller andiente und den er schliesslich co-produzierte – oder den philosophischen Krimi Simon the Magician. Alles konnte in ihren Filmen passieren, in denen sich Fantastisches und alte Legenden mit der politischen Gegenwart zu unerwarteten, oft surrealen und zugleich alltäglichen Geschichten vermischten. Lange war es dann still um Ildikó Enyedi, bevor sie sich 2017 mit dem Berlinale-Gewinner On Body and Soul zurückmeldete und bewies, dass sie noch immer zu den originellsten weiblichen Stimmen des zeitgenössischen europäischen Kinos gehört.

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Mit einer fast umfassenden Werkschau inklusive ihrer frühen experimentellen Kurzfilme lädt das Stadtkino Basel ein, das schmale wie schillernde Werk der Traumjägerin zu entdecken, und freut sich, Ildikó Enyedi am 10. Januar zu einem Gesprächsabend zu Gast zu haben.

 

Fast zwei Dekaden liegen zwischen On Body and Soul (2017), Ildikó Enyedis mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten Comeback, und ihrem letzten Werk vor einer langen ungewollten Pause, Simon the Magician (1999). Bemerkt hat man diese Abwesenheit jedoch nie, was viel mit der sehr speziellen Poesie ihres Schaffens zu tun hat – es sind Filme des Konjunktivs, und so wie in ihnen scheinbar alles in jedem Augenblick passieren kann, so hatte man auch das Gefühl, dass ihr nächstes Werk bestimmt bald zu sehen sein wird.
War es aber nicht. Enyedi hatte dabei keine kreative Pause eingelegt, im Gegenteil: Neben ihrer Arbeit als Dozentin an der Filmakademie wurden mindestens fünf internationale Projekte drehfertig entwickelt, nur um am Ende nicht in Produktion zu gehen, da immer wieder Gelder wegfielen oder Förderer es sich anders überlegten. Die Lehre aus dem Finanzierungswahnsinn war, dass On Body and Soul allein mit ungarischen Geldern gedreht wurde. Statt Langfilme für die grosse Leinwand machte Enyedi in jenen Jahren viel Fernsehen, wie etwa die HBO-Psychoanalytiker-Serie Terápia (2012-17), oder Geschichten in Gesichtern (Ország és irodalom) (1999), ein mittellanger Versuch zur ungarischen Literatur, deren Platz in der Welt wie daheim, gedreht anlässlich der Frankfurter Buchmesse 1999, wo ihre Heimat als Gastland geehrt wurde. An Kinostücken entstanden u.a. das kurze, schwärmerisch-schelmische Science-Fiction-Melodram First Love (2008) sowie ein Beitrag zu dem Gruppenprojekt From Europe Into Europe (2004), mit dem die Spitzen der ungarischen Filmkultur sich vorsichtig optimistisch zur EU-Erweiterung äusserten. Das ist, in Wirklichkeit, eine ganze Menge an Kreativarbeit – die allerdings für Orte und Medien realisiert wurden, die weniger grenzüberschreitend sichtbar sind oder minder prestigeträchtig. Und da vergehen denn auch zwanzig Jahre wie im Flug.


Enyedi fand dabei eher durch Zufall zum Kino: Film erwies sich für die studierte Betriebswirtin (und abschlusslose Regiestudentin) als die einzig mögliche Kunstform, wollte sie all die unterschiedlichen Ausdrucksformen, mit denen sie in ihrer Zeit als Mitglied der Künstlergruppe INDIGÓ experimentiert hatte, in irgendeine geschlossene Gestalt giessen. Denn Enyedi kommt von der bildenden Kunst, das Kino als Medium ergab sich für sie aus dem Versuch, Performance, die Erkundung von Raum und eine Liebe zur Theatralik miteinander zu verschmelzen. Was dann wiederum perfekt dem Geiste des staatlich unabhängigen Béla-Balázs-Film-Studios entsprach, einer weiteren Stätte ihres Werdensweges.
Kurios an Enyedis Karriere ist, dass sie ihre Projekte relativ problemlos realisiert bekam in einer Zeit, da es ambitionierte Filmschaffende in Mittel- und Osteuropa ob der Umstellung auf kapitalistische Produktionsbedingungen oft schwer hatten: Die 90er waren ihre Dekade. Mag sein, dass sie als Ungarin einen gewissen Standortvorteil hatte, war das Land doch schon in seiner staatsozialistischen Zeit stark interessiert an Koproduktionen, sodass der Übergang zwischen den Systemen für die Filmkultur kaum eine Rolle zu spielen schien; mag ebenfalls sein, dass ihr Kino der (Alp-)Träume mit seinen lyrischen Ausschweifungen und Spiegelungen durchaus einem Zeitgeist entsprach.


Ihr Langfilmdebüt My Twentieth Century (1989) war denn auch ein Werk zur Zeit: ein Fin-de-siècle-Stück, situiert zum Grossteil seiner Länge im Orient-Express, einem der Symbole jener untergehenden Welt, welche durch eine gar nicht so schlecht erscheinende neue ersetzt werden sollte – eine Welt der Emanzipation, der Elektrizität und des Kinos. Im Mittelpunkt dieses Abenteuers stehen die eineiigen Zwillinge Dóra und Lili, deren Lebenswege sich auf mysteriöse Weise trennen, nur um sich am letzten Tag des 19. Jahrhunderts wieder zu überschneiden – in Gestalt eines Mannes, in den sich beide verliebt haben, das aber natürlich nicht wissen. Z heisst er und auch er ahnt nicht, dass er es mit zwei Frauen zu tun hat – obwohl es ihn schon irritiert, dass man sich bei dieser Frau auf nichts verlassen kann: Mal ist sie z.B. im Bett ein Sexdämon (da liegt Dóra bei ihm, die Hedonistin, der allein die Lust und der Rausch etwas bedeuten), dann wieder ein Blümchen Rührmichnichtan (dann ist er mit Lili zusammen, einer mächtig vergeistigt-theorielustigen Anarchistin). Diese Doppelgängerinnen (die zudem der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten scheinen ... ein ideengeladenes Dreieck zeichnet sich da ab!) lassen schon früh Enyedis Faszination für den Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung erkennen. Und ist nicht dessen Beschreibung von Alchemie als Proto-Psychologie eine schöne Verdichtung vieler Impulse ihres Schaffens?
Jeder liebte das Verspielte an My Twentieth Century, dieses frech vor sich hin Flatternde, lustig Versponnene des Films, das auch an Věra Chytilovás Tausendschönchen (1966) erinnerte. Vielleicht war es auch der fast neurotische Optimismus des Sommers und Herbstes von 1989, der einen die dräuenderen Untertöne des Films eher übersehen liess ... Untertöne, die in der Folge das Schaffen Enyedis weiter charakterisieren, aber erst mit On Body and Soul ein Werk in toto definieren sollten. Zumindest: Der Schlachthof, wo sich in Letzterem ein körperbehinderter mittelalter Finanzdirektor und eine leicht autistische junge Fleischkontrolleurin ineinander verlieben, als sie entdecken, dass sie sich einen Traum teilen, hat als Handlungsort eine gewisse werkimmanente Logik, wenn man bedenkt, was für seltsame Figuren die früheren Filme Enyedis bevölkern und was für merkwürdige Geschichten sie überleben müssen.


Um Bedrohungen, damit einhergehend auch den Zwang zur Flucht nach vorne, in die Zukunft, neue Medien, andere Welten, geht es immer wieder bei Enyedi, beginnend schon vor My Twentieth Century mit ihrer mittellangen Übung The Mole (1987), einer Science-Fiction-Überwachungsstaats-Fantasie nach Adolfo Bioy Casares, die in ihrer Mischung aus Stilisierung und stoischem Realismus dem spezifischen Genie des argentinischen Grossmeisters gerechter wird als so ziemlich jeder Versuch zuvor wie danach. Magic Hunter (1994), eine sehr freie Näherung an Motive aus «Der Freischütz», Carl Maria von Webers und Johann Friedrich Kinds romantische Oper in drei Aufzügen, dreht sich um einen Polizisten, der einen russischen Schachgrossmeister aus der Ferne beschützen soll, während in Simon the Magician die französische Polizei einen Mörder jagt, den sie mit Hilfe eines ungarischen Magiers zu fassen hofft. In Magic Hunter bricht die Fantastik ein durch die Gestalt eines Mädchens (der Tochter des Polizisten), welches sich die Ereignisse als Märchen selbst erklärt, alldieweil in Simon the Magician die schwarze Magie so etwas wie eine Parallelwirklichkeit darstellt, welche für Enyedi (oder zumindest den Film) genauso real ist wie das, was da so in der uns bekannten Welt passiert. Ja, durch die 90er hindurch wurden Enyedis Filme immer wagemutiger, visuell berauschender, aber auch grausamer in dem, wovon sie erzählen.
Tamás and Juli (1997), dazwischen, wirkt zuerst fast wie ein Versehen bzw. eine Konzession an den Auftraggeber, das Fernsehen, kommt der Beitrag zur Arte-Milleniumswechselserie 2000 vu par ... doch verblüffend geerdet daher. Von heute aus gesehen wirkt die Romanze zwischen dem Minenarbeiter und der Kindergärtnerin, denen die eigene Gefühlstollpatschigkeit dauernd in die Quere kommt, wie eine erste Skizze für die bizarre Liebesgeschichte im Zentrum von On Body and Soul, jenem Meisterwerk, in dem sich alle Enyedi’schen Obsessionen wie gestalterischen Instinkte zu einem harmonischen Ganzen zusammenfinden: zu einem Kino zwischen Realismus und Möglichkeitssinn, aus Fleisch und Blut, dabei voller Zartheit, kosmopolitischen Geistes, darin ungarischen Gemüts. Ein im besten, heute fast wie verloren wirkenden Sinne europäisches Kino.

 

Olaf Möller

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