
GEORGIEN
GENERATIONEN
Generationen von Filmschaffenden prägen die Landschaft Georgiens. Sie betten uns ein in die hohen Berge des Kaukasus, lassen uns das mediterrane Flair des Schwarzen Meeres atmen und gewähren Einblicke in das urbane Leben von Tiflis. In den letzten Jahren werden die kinematografischen Bilder von einer neuen Generation, die nach dem Zerfall der Sowjetunion aufwuchs, gemalt. Die Filmreihe «Georgien – Generationen» widmet sich ihren Werken und präsentiert eine Hommage an Elene Naveriani mit einer Carte Blanche. Zudem ehrt die Reihe die bedeutende Regisseurin Lana Gogoberidze, die mit ihrem Film Mother and Daughter, or the Night Is Never Complete ein Fenster in die Filmgeschichte Georgiens öffnet. Während auf Georgiens Strassen Proteste entflammen, glüht das georgische Kino vor Veränderung.
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Von Federico Fellini ist das Zitat überliefert, das georgische Kino sei ein völlig einzigartiges Phänomen. Lebhaft, philosophisch inspirierend, weise und kindlich zugleich. «Es hat alles, was mich zum Weinen bringt», so Fellini. «Und ich weine nicht leicht.» Mehr als dreissig Jahre nach Fellinis Tod gilt das immer noch und doch sind zum vielstimmigen Chor des georgischen Kinos seither noch mehr junge und gar wiederentdeckte Regisseur:innen dazu gekommen. Sie zeugen von einem Land an den überlappenden Rändern zweier Kontinente, das in der politischen Spannung zwischen kaukasischen Traditionen und einem europäischen Aufbruch steht.
Vielleicht hilft es, sich dem georgischen Kino mit einem Film zu nähern, der erstmal gar nichts erklärt. Beginning (2020) von Déa Kulumbegaschwili erzählt von Yana (Ia Sukhitaschwili), der Ehefrau eines Missionars der Zeugen Jehovas, die ihrem Ehemann in ein georgisches Bergdorf folgt. Sie werden dort zum Ziel eines Anschlags, und statt Hilfe von der örtlichen Polizei zu erhalten, wird diese für Yana zur gewalttätigen Bedrohung. In Kulumbegaschwilis Debütfilm trifft das orthodoxe Christentum auf die Zeugen Jehovas und damit zwei dogmatische Glaubensgemeinschaften aufeinander, die sich in ihrem patriarchalen Fundament gleichen. Yana droht daran zu zerbrechen und scheint sich ein anderes Leben zu wünschen. Kulumbegaschwili zeigt sie dabei in Tableaus von stoischer Schönheit. Es sei etwas falsch mit ihr, sagt Yana einmal. «Es ist, als ob ich darauf warte, dass etwas anfängt oder endet.» Könnte das politisch womöglich für ganz Georgien gelten?
Dass Anfang und Ende ineinanderfallen können, davon erzählt auch In Bloom (2014) von Nana Ekvtimischwili und Simon Gross. Die Kindheit der beiden Vierzehnjährigen Natia (Mariam Bokeria) und Eka (Lika Babluani) im Tiflis von 1992 endet jäh, als Natia, ohne ihn zu lieben, sich auf eine Heirat mit einem Verehrer einlässt. Eka ist erschüttert, dass Natia sich nicht wehrt und protestiert dagegen auf ihre Art. Auf Natias Hochzeit tanzt sie einen georgischen Tanz, der eigentlich den Männern vorbehalten ist. Die Kamera folgt ihrer Angstlosigkeit dabei auf Augenhöhe. In der eindrücklichen Szene deutet sich der unbändige Mut einer Generation an, die damals das gewalttätigste Jahrzehnt der jüngeren georgischen Geschichte erst vor sich hatte.
Es beginnt hoffnungsvoll. 1991 macht sich Georgien als erstes Land der ehemaligen Sowjetunion von ihr unabhängig und wählt den Dissidenten Swiad Gamsachurdia zum Präsidenten. Doch schon 1992 wird er gestürzt und vom autoritären Eduard Schewardnadse ersetzt. Noch im gleichen Jahr kommt es in den Regionen Südossetien und Abchasien zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf 200000 ethnische Georgier:innen flüchten. Die bürgerkriegsähnlichen Zustände beendet die sogenannten «Rosenrevolution» von 2003. Bis 2008 sich in Abchasien fünf Tage lang georgische und russische Truppen gegenüberstehen. Dabei wendet sich Georgien von Russland ab und blickt fortan gen Europa, was sich auch im georgischen Kino niederschlägt. Zwischen 2006 und 2009 verdreifacht sich das Budget der nationalen Filmförderung. Zahlreiche Koproduktionen mit Europa entstehen. Dutzende Kinos schiessen aus dem Boden und die Zahl der Zuschauer:innen steigt von 2012 bis 2016 um das Doppelte auf 1.15 Millionen Eintritte pro Jahr. Dies in einer Nation mit gerade einmal 3.7 Millionen Einwohner:innen. Zeitgleich blüht auch das internationale Interesse an der georgischen Filmgeschichte auf. Die eindrücklichste Filmfamilie des Landes besteht aus drei Generationen von Frauen. Die erste unter ihnen, Nutsa Gogoberidse (1902– 1966) zeigt im Dokumentarfilm Buba (1930) die beschwerlichen Lebensbedingungen von Frauen im Hochgebirge von Ratscha und überblendet diese mit Bildern einer leuchtenden, technisierten Zukunft. Im dynamischen Rhythmus ihrer Montage zeigt sich schon früh die Poesie einer Filmemacherin, die später mit Ujmuri (1934) zur ersten Spielfilm-Regisseurin der Sowjetunion werden würde, doch viel zu lange vergessen war. Ihre Tochter Lana Gogoberidse, geboren 1928, nahm den filmischen Faden der Mutter auf. In Some Interviews on Personal Matters (1978) zeigt sie den Alltag der Journalistin Sofiko (Sofiko Chiaureli), die georgische Frauen zu ihrem Leben und ihren Wünschen befragt. Es ist ein dokumentarisch anmutender Tiefenblick in eine Gesellschaft, die trotz allem den Humor nicht verliert. Da scheint wiederum die Tochter von Lana Gogoberidse Salomé Alexi, geboren 1966, anzusetzen mit ihrer ernst-heiteren Komödie The Line of Credit (2014) über das strauchelnde Leben einer Ladenbesitzerin in Tiflis. So unterschiedlich die Filme der drei Generationen georgischer Regisseurinnen auch sein mögen, sie zeugen alle von einer fast hundertjährigen Tradition eines feministischen Kinos, das gerade erst aus der Verschüttung geborgen wird.
Leiser Humor, brüchige Vergangenheit, unaufdringlich schöne Bilder: Die Traditionslinien des georgischen Kinos wirken auch in den Filmen von Elene Naveriani, geboren 1986, fort. In Naverianis Langfilmdebüt, das den von Frantz Fanon inspirierten Titel I Am Truly a Drop Of Sun on Earth (2016) trägt, wählte die non-binäre Person Naveriani ein Mahnmal der historischen Umwälzungen in Tiflis als Kulisse. Das Hotel Iveria beherbergte einst sowjetische Parteikader, bot nach 1989 Geflüchteten aus Abchasien Schutz und war 2003 schliesslich der Glutkern der «Rosenrevolution». Naveriani porträtiert dort nun zwei Figuren am Rand der georgischen Gesellschaft: die Sexworkerin April (Khatia Nozadse) und der Geflüchtete Dije (Daniel Antony Onwuka). Naveriani inszeniert die beiden Suchenden in körnigem Schwarzweiss zwischen Plattenbauten und dunkler Nacht. «Alle Figuren des Films tragen das Licht des Titels in sich», sagte mir Elene Naveriani bei einem Gespräch im Januar 2022. Was für die Figuren gilt, möchte man auf die kämpferische Jugend des ganzen Landes übertragen.
Wet Sand (2021) atmete dann vollends die stille Hoffnung auf einen Wandel. Amnon (Gia Agumava) der stoische Besitzer einer heruntergekommenen Strandbar, hat jahrelang seinen besten Freund im Verborgenen geliebt. Nach dessen Tod vertraut er das seiner Tochter Moe (Bebe Sesitaschwili) an. Was die homophobe Dorfgemeinschaft gegen die beiden auf bringt, schweisst sie zusammen. Wenn Wandel Gemeinschaft bedingt, scheint Naveriani zu suggerieren, dann beginnt er mit zwei Menschen, die sich einander anvertrauen. In Blackbird Blackbird Blackberry (2023), dessen Titel auf den georgischen Filmklassiker Once Upon a Time There Was a Singing Blackbird (1970) von Otar Iosseliani anspielt, sind dies die Ladenbesitzerin Ethérw (Eka Chavleischwili) und der Lieferant Murman (Temiko Chinchinadse), deren Leidenschaft selbst den missgünstigen Nachbar:innen trotzt. Für beide Filme findet Naveriani pastellene Bilder von ausgewaschener Melancholie und porträtiert Antiheld: innen, die bis heute die beliebtesten Figuren des georgischen Kinos sind. Sie zeugen immer von beidem: der Lebenslust und der Melancholie, der Zuversicht und dem Zweifel, dem Stillstand und dem Aufbruch.
«Filme können Prophezeiungen sein», sagte mir Elene Naveriani zum Schluss der Begegnung im Januar 2022. Einen knappen Monat später griff Russland die Ukraine, an und heute, Ende Dezember 2024, als ich diesen Text schreibe, protestiert Elene Naveriani mit Tausenden anderen Georgier:innen seit Wochen jeden Tag auf den Strassen von Tiflis. Gegen einen russlandfreundlichen Präsidenten. Gegen ein repressives NGO-Gesetz nach russischem Vorbild. Gegen eine Wahl, deren Legitimität westliche Beobachter: innen anzweifeln und die die georgische Opposition nicht anerkennt. Die Prophezeiungen von Naverianis Filmen mögen sich noch nicht erfüllt haben, doch die Hoffnung auf einen politischen Aufbruch wird in den Bildern des georgischen Kinos weiterglühen.
Timo Posselt. geboren 1991, ist freier Journalist unter anderem für die ZEIT, das ZEITmagazin, die Süddeutsche Zeitung, die NZZ am Sonntag und Das Magazin.
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