ELENI KARAINDROU
GRIECHISCHE ELEGIE
Ihre Musik ist mehr als nur der Soundtrack zum Film. Als eigene Vision tragen uns die vibrierend, heiteren und melancholischen Klänge hin zu emotionaler Weite und Intensität. Während dreissig Jahren prägte Eleni Karaindrou mit ihren Kompositionen das Schaffen des griechischen Regisseurs Theodoros Angelopoulos. Er erzählte ihr von den Bildern. Sie erschuf die Musik oftmals schon vor dem Dreh. Ausgehend von der Essenz des Films entwickelte sie ihre musikalischen, sich laufend verwandelnden Motive und arbeitete für die Aufnahmen mit Musiker:innen wie dem norwegischen Jazzmusiker Jan Garbarek, der amerikanischen Bratschistin Kim Kashkashian oder der griechischen Sängerin Maria Farantouri zusammen. Manchmal werden Bilder zum Echo von Musik.
mehrMUSIK UND BILD IN ZEIT UND RAUM
haben eines gemeinsam: Sie arbeiteten über viele Jahre hinweg mit den gleichen Komponisten. Die Namen Nino Rota, Bernard Herrmann, Ennio Morricone und Zbigniew Preisner sind deshalb auch eng verbunden mit dem Werk des jeweiligen Regisseurs. Ähnliches lässt sich über Eleni Karaindrou sagen, die mit Beginn von Reise nach Kythira (1984) die Klangräume zu den ausdrucksvollen Bildern des Griechen Theo Angelopoulos (1935-2012) entwarf.
Eleni Karaindrou war in unseren Breitengraden lange Zeit kaum bekannt, obwohl sie in einem Atemzug genannt werden muss mit ihren Landsmännern Manos Hatzidakis, Stavros Xarhakos oder Mikis Theodorakis. Die Pianistin und Komponistin gab nur wenige Konzerte, dafür legendäre in den antiken Theatern von Athen (1988) und Epidauros (1993). Massgeblich beteiligt an der weltweiten Verbreitung ihrer Musik waren der Filmemacher Theo Angelopoulos und der Produzent Manfred Eicher, der 1991 auf seinem Label ECM begann, Karaindrous Filmmusik zu veröffentlichen. «Music for Films» hiess die erste CD schlicht; ein gutes Dutzend sind inzwischen erschienen.
So wenig sie öffentlich spielte, so viel komponierte Eleni Karaindrou seit 1975 – auch fürs Kino und fürs Theater. Für Filmer:innen wie Margarethe von Trotta (L’Africana, 1990) oder Tonia Marketaki (Der Preis der Liebe, 1984) hat sie die Filmmusik geschrieben, für Jules Dassin am Athener Nationaltheater die Musik zur Inszenierung «O Glaros» (1988) komponiert. Karaindrou wurde 1941 in Teicho geboren, einem kleinen Bergdorf in Zentralgriechenland. Die Geräusche von Wind und Regen, die Stille des fallenden Schnees seien ihr tief in Erinnerung geblieben, sagt sie und beschreibt ein Stück weit den Charakter zahlreicher ihrer Kompositionen, das Wesen ihrer lyrischen Filmmusik überhaupt. Deren Klang scheint immer wieder der Natur zu entstammen, ein Echo fast der Bilder zu sein oder zuweilen die Bilder zu einem Echo der Musik geraten zu lassen: Beides gehört zusammen. Als ihre Familie nach Athen übersiedelte, wohnte das damals achtjährige Mädchen gleich neben einem Freiluft-Kino. Ihre Passion für die Musik wie fürs Kino führt sie auf diesen Umstand zurück: Abend für Abend zog Filmgeschichte vor ihrem Kinderzimmer vorüber. Zwischen 1953 und 1967 studierte Eleni Karaindrou am griechischen Konservatorium Piano, daneben Geschichte und Archäologie, bis die Militärjunta die Macht übernahm und sie sich mit ihrem Sohn nach Paris absetzen musste.
Komponistin war sie auf autodidaktischen Wegen geworden, eine instinktive Komponistin, wie sie sich selber bezeichnet. In Paris konnte sie ihre ersten Platten veröffentlichen, darunter «I megali agripnia» (1973), auf der die unübertreffliche Theodorakis-Interpretin Maria Farantouri Texte des Dichters Miris singt: eine Platte des Widerstands. Nach dem Ende der Diktatur kehrte die Griechin 1974 in ihre Heimat zurück. Sie baute zusammen mit Manos Hatzidakis ein drittes Radioprogramm mit Schwerpunkt Kultur auf. Ich weilte in jenen Jahren immer wieder in Griechenland, reisend und arbeitend, und bin aus zweifachem Grund auf Karaindrous Musik gestossen: einerseits über die intensive persönliche Beziehung zu Griechenland, andererseits über die Filme von Theo Angelopoulos, mit dem Eleni Karaindrou über Jahre hinweg gearbeitet hatte. Für Der grosse Alexander (1980) hatte er sie ein erstes Mal kontaktiert, für Reise nach Kythira kam es 1984 zur ersten Zusammenarbeit. Sie habe nie ein Drehbuch lesen wollen, erinnerte sich der Regisseur, sie habe gewollt, dass er ihr erzählt, dann sei sie nach Hause gegangen und habe sich seine Erzählung erspielt. Der Mann der Bilder beschreibt der Frau der Töne seine Bilder. Sie greift Töne aus ihnen auf und erweitert seine Bilder in eine neue Dimension.
Ob Walzer, Jazz, Rembetiko, Blues, Rock, ob Theater oder Filmmusik: Eleni Karaindrou schrieb im Lauf der Jahre alles. Auch Julie Massinos Rocksong, der in Der Bienenzüchter eine zentrale Rolle spielt, stammt von ihr. In Begegnungen mit Eleni Karaindrou ist spürbar, was sie mit dem Instinktiven an ihrer Arbeit meint. Sie lebt förmlich in Tönen, fliessend gehen die Worte eines Satzes in ein paar gesungene Takte einer Melodie über, um in einer Folgerung zu münden, die wieder verbal sein kann. Ich fragte sie einmal, wie sich die Arbeit in Sachen Filmmusik bei ihr abspiele, das interessierte mich umso mehr, als ihre Musik kaum je begleitenden Charakter hat: Sie wächst aus dem Bild heraus, ist substanzieller Bestandteil dessen, was uns der Filmemacher vermitteln will. Für Angelopoulos zeichnete sie frühe musikalische Skizzen auf, damit er sie zur Drehbuchentwicklung bereits brauchen konnte. Dann hörte er sich während dem Dreh immer wieder die entsprechenden Musikpassagen an. Im Fall von Landschaft im Nebel (1988) hatte Karaindrou für die beiden Kinder Kassetten mit der Musik aufgenommen, damit sie sich so in die gewünschte Stimmung versetzen konnten.
Die Musik der Griechin hat tiefe Wurzeln. Für Der Bienenzüchter (1986) schwebte Eleni Karaindrou in der kargen Landschaft die traditionelle griechische Klarinette vor, das dudelsackähnliche Lauto. Sie wollte das aber klangfarblich verstärken und entschied, dieses Instrument mit einem Saxophon zu tauschen. Und da lag Jan Garbarek im weit entfernten Norwegen nahe, nicht sein Jazz, aber die bestmögliche Interpretation dieser Stimme, die auf dem populären Instrument fusste.
In der Zusammenarbeit mit Eleni Karaindrou veränderten sich auch die Filme von Theo Angelopoulos. In frühen, stark an Momenten der Geschichte orientierten Werken wie Die Wanderschauspieler (1975) (welches das Stadtkino Basel anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums und der Restaurierung ebenfalls zeigt) setzte er die Musik als Protagonistin ein: Da trieben Lieder in Worten, Melodien und als Referenz die Erzählung voran. Auf den byzantinischen Choral Der grosse Alexander wurde mit der Trilogie des Schweigens die Musik vom äusseren zum inneren Bestandteil seiner Erzählweise. Bei Karaindrous Musik habe ich immer wieder das Gefühl, sie würde einen vagen Ton aus einem bestimmten Raum aufgreifen, ihn langsam auffüllen, anreichern. Ihre Töne drängen sich nie auf, sie entwickeln sich aus möglichen Stimmungen, aus inneren Klängen der Filmerzählung heraus, sie gehören dazu wie das Vogelgezwitscher oder das Pfeifen des nahenden Zuges.
Für Der schwebende Schritt des Storches (1991) hat Eleni Karaindrou mit einer Harmonika die Musik geerdet, lässt eine Harfe schweben und ein französisches Horn fliegen, um zu guter Letzt auch klanglich jenen Spannungsbogen zu schaffen, der visuell vorhanden ist. Mit drei Musikern war sie eigens in den Norden an jenen Fluss gereist, an dem Theo Angelopoulos mit der Hochzeit über den Fluss eine Schlüsselsequenz drehen wollte, um live auf dem Set zu spielen. In Die Ewigkeit und ein Tag (1998) scheint der Klang ihrer lyrischen Kompositionen völlig von der Natur inspiriert, er kommt immer wieder einem Echo der Bilder gleich. Es ist, als würden Viola oder Oboe die nach aussen gekehrten Innenbilder des Griechen musikalisch zurück nach innen ausloten. Meisterlich auch hier eine auf traditionellen Rhythmen und Instrumenten gebaute Hochzeitsszene.
Das Zusammenwirken war mit den Jahren so perfekt geworden, dass auch das Umgekehrte vorkommt, dass Bilder wie ein Echo der Musik erscheinen. Das geschieht beispielsweise in Die Ewigkeit und ein Tag in jenem Moment, in dem Bruno Ganz als Protagonist feststellt, dass jedes Mal, wenn er in seiner Wohnung eine bestimmte CD spiele, aus einer Wohnung im gegenüberliegenden Haus dieselbe Musik erklingen würde. Diese Stimme von gegenüber, Botin einer anderen Welt wie Echo der eigenen, enthält ein Moment von Transzendenz, der sich im Wechselspiel von Bild und Musik zwischen Angelopoulos und Karaindrou wieder findet. Musikerin und Filmer scheinen in ein und derselben Schwingung, ihr Zusammenspiel wirkt vollkommen. «Hearing the Time», der Titel eines Musikstücks, ist da gleichsam das Programm. So wie die Plansequenzen des Griechen, von denen wir uns tragen lassen können. Alles ist, in Bild und Musik, räumlich und zeitlich.
Walter Ruggle. Publizist, Leiter des Kino Orient in Baden- Wettingen und ehem. Direktor der Stiftung trigon-film, die herausragende Filme aus Afrika, Asien, Lateinamerika und dem östlichen Europa herausbringt. Davor hat er zwanzig Jahre als Filmkritiker gearbeitet und diverse Bücher veröffentlicht.