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Filmreihe

 
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As Time Goes By

Das Leben im Zeitraffer


Die Zeit vergeht. Und kaum sichtbar nimmt das Leben seinen Lauf, verändern sich Landschaften und gesellschaftliche Strukturen. Filmische Langzeitbeobachtungen nähern sich diesem Mysterium des Lebens an, begleiten Alltagsheld:innen über Jahre und Jahrzehnte – und machen die Zeit auf der Leinwand sichtbar. Lassen anteilnehmen an Lebensverläufen, Erfolgsgeschichten und unvorhersehbaren Schicksalen. Die britische Up-Series startet 1964 mit sieben Jahre alten Kindern aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und schreibt deren Geschichten bis 2019 alle sieben Jahre fort. Ein in dieser Länge nie dagewesenes Filmexperiment! Am Erwachsenwerden zweier Schwarzer Highschool-Basketballer lässt sich in Hoop Dreams ein Sittenbild der amerikanischen Gesellschaft entdecken. Jahrzehntelanges Selbst-Filmen eines Mannes mündet in Sam Klemke’s Time Machine. Helena Treštíková, empathische Seismografin, fängt seit den 1970er-Jahren die Schicksale ihrer Held:innen am Rande der Gesellschaft und mit ihnen politische Umbrüche Europas ein. Die tschechische Langzeit- Dokumentarfilmerin ist am 2. März im Stadtkino zu Gast.

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«Film hat mich schon immer fasziniert wegen seiner Fähigkeit, Dinge einzufangen», erklärt Sam Klemke am Anfang des Films, der seinen Namen trägt: Sam Klemke’s Time Machine (2015). Klemke ist ein Filmenthusiast, ein YouTuber avant la lettre, der in den 1970ern anfängt, das eigene Leben auf Film festzuhalten: «Film kann alles erfassen, was er sieht, aber vor allem erfasst er: Zeit.» Für Langzeitbeobachtungen ist das eine schöne Definition, denn das Verführerische an Langzeitbeobachtungen ist letztlich genau das – die Zeit, die dokumentiert wird, die klar erkennbare Veränderung in Vorher-Nachher-Bildern von Menschen und Landschaften, Orten und Gesellschaften.

Darauf versteht sich kaum jemand so gut wie Helena Treštíková. 1949 geboren, studierte sie an der Prager Filmhochschule (FAMU) und debütierte 1975 mit dem kurzen Film Miracle über die Kindheitsfreundin Jana, deren Mann Petr und die Geburt des gemeinsamen Sohnes Honza. Ein Anfang, auch für das Werk von Treštíková, die diesem Leben 37 Jahre lang mit der Kamera folgen wird. Der Film bewegt sich entlang der Aufzeichnungen, die der Vater über das Aufwachsen des Kindes gemacht hat, und kontrastiert das Familienleben mit Fernsehbildern, die die politischen Entwicklungen und Verhältnisse in der CSSR und der Tschechischen Republik vor und nach 1989/90 markieren. Private Universe (2012) ist ein so eleganter wie treffender Titel für diese Langzeitbeobachtung, weil damit die Grösse von Treštíkovás ausdauernder Unternehmung beschrieben wird, die dem Leben so lange mit der Kamera zuschaut, bis etwas Universelles sichtbar wird.

Für Helena Treštíková ist die Langzeitbeobachtung der Normalfall dokumentarischen Arbeitens. Immer hat die Filmemacherin mehrere Projekte zeitgleich betreut – neben Private Universe etwa die Ehe-Etüden Marriage Stories (1987/2006), in denen sie Paare mehr als 20 Jahre lang beim Zusammensein portraitiert (was auch heissen kann: beim Sich-Trennen). Eine besondere Arbeit ist der noch vor der Öffnung des Eisernen Vorhangs begonnene Film über den Strafgefangenen René Plášil: René, wie die 2008 veröffentlichte Arbeit heisst, rückt eine Figur am Rande der bürgerlichen Gesellschaft ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Film hält ein Leben fest, für das sich gemeinhin kaum jemand interessiert. In gewisser Weise erschafft Treštíková den hochintelligenten Kriminellen René erst, wie die Fortsetzung René – The Prisoner of Freedom (2021) belegt. Dort steht am Anfang die mediale Popularität des charismatischen Protagonisten als Buchautor und Talkshow-Gast. Treštíková erzählt durch Menschen, die Kontakt zu René suchen, ihn erkennen, immer wieder von dessen Bekanntheit, die sich dem Film von 2008 verdankt. Die Geschichte handelt also auch von wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Filmemacherin und Protagonist, die Treštíková transparent macht.

Die längste Langzeitdokumentation der Filmgeschichte kommt allerdings aus Grossbritannien. Seven Up! hiess der 40-minütige Film, der 1964 im britischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Eine Gruppe von Kindern im Alter von sieben Jahren, die über sich und ihre Welt Auskunft geben. Anfangs gar nicht als Serie gedacht, veröffentlichte der 2021 verstorbene Michael Apted, bei der ersten Folge noch Assistent und ausserhalb Grossbritanniens bekannter als Spielfilmhandwerker etwa von James Bond-Abenteuern, alle sieben Jahre eine neue Folge; das letzte Mal 2019 – 63up.

Schon beim zweiten Film ist die (vermeintliche) mediale Unschuld des Auftakts verschwunden, wenn die 14-jährigen Teenager kritischverschämt auf die Bilder blicken, die sie als Kinder zeigen. So kommentiert sich die Up-Series auch permanent selbst, ordnet am Blick des über die Jahre vertrauten Beobachters Apted das eigene Leben. «Hab ich dich seit dem Tod deines Vaters schon gesehen?», fragt der Filmemacher Nick in 63up. «Du kennst mich, Michael, ich hab mich damit noch nicht völlig auseinandergesetzt », antwortet der über sein Ringen mit dem Verlust. Dem Sog, den die wiederkehrenden Gespräche mit den älter werdenden Protagonist: innen durch die Zeit hindurch entfalten, ihren Gesichtern, in die sich das Leben einschreibt, kann man sich nur schwer entziehen. Wer zuschaut, will wissen, wie es weitergeht. Dabei steht, und das war einst Prämisse des Projekts und davon handelt es die ganze Zeit, im Alter von sieben schon ziemlich viel fest über den weiteren Lebensweg.

Apted hat sein Projekt entlang von Klassengrenzen entworfen, und dieser Kontrast macht den Reiz der Serie aus. Dass die schnöseligartikulierten Reichenkinder John und Andrew etwa, die im ersten Film schon die Financial Times und andere Zeitungen ihrer Väter lesen (oder das zumindest behaupten, ohne rot zu werden), genau in den Oxbridge-Elite-Unis landen, von denen sie wissen, dass ihnen der Platz dort zusteht, überrascht nicht. Von den finanziell weniger gut ausgestatteten Familien gelingt nur dem Bauernsohn Nick der Aufstieg zum Professor in den USA.

Wie die Up-Series ist Winfried und Barbara Junges Langzeitdokumentation Die Kinder von Golzow (1961-2007) geprägt vom Aufbruchsund Fortschrittsgeist der 1960er-Jahre, als allein die Jahreszahl 2000 aufregend-positive Vorstellungen von so etwas wie Zukunft produzierte. Die DDR will zeigen, wie der Sozialismus loslegt: Eine Schulklasse im von den finalen, sinnlosen Kämpfen des Zweiten Weltkriegs besonders verheerten Oderbruch östlich von Berlin soll neue Menschen und bessere Zukunft repräsentieren. Die eigentliche Grösse der Golzow- Unternehmung verdankt sich dann aber ironischerweise den Unberechenbarkeiten der Geschichte – der politischen Zäsur von 1989/90, dem Ende der DDR, das die festgefahrenen Biografien ordentlich durcheinanderwirbelt.

An die Stelle der Kollektivarbeiten treten in den 1990er-Jahren bis zum Abschluss 2007 dann Einzelfilme. Da habt ihr mein Leben. Marieluise – Kind von Golzow erzählt eine der interessantesten Biografien aus der Schulklasse, weil die charismatische Marieluise durchs kirchliche Elternhaus im DDR-Sozialismus eine leicht dissidente Figur ist, die dann aber statt des unsteten und langhaarigen Musikers einen funktionstragenden Soldaten heiratet. Der kommt an so geheimen Standorten zum Einsatz, dass er ein paar Jahre aus dem Film verschwinden muss, weshalb Die Kinder von Golzow nach 1990 immer auch die Korrektur beim Filmemachen bedeutet. Am Ende zieht die Familie als erste aus der Golzow-Klasse in den Westen, der Arbeit hinterher.

Film hält aber nicht nur fest, was da ist, sondern auch was fehlt: In James Bennings Milwaukee-Portrait One Way Boogie (1978) zeigt der Filmemacher den Ort der eigenen Kindheit, aufgelöst in 60 feste Einstellungen. Wenn Benning 27 Years Later dieselben Aufnahmen noch mal macht, hat sich die Welt vor der Kamera verändert: Häuser fehlen, Menschen haben graue Haare bekommen, Fassaden sehen anders aus. Ums Kindsein geht es auch in Richard Linklaters ungewöhnlichen Spielfilmprojekt Boyhood (2014). Die Dreharbeiten haben sich über zwölf Jahre gestreckt, damit auf auf doppelte Weise vom Coming of Age, der Adoleszenz eines Jungen und seiner Schwester erzählt werden kann. Die Schauspieler und Schauspielerinnen, also auch die Eltern (Patricia Arquette und Ethan Hawke), altern durch die lange Drehzeit tatsächlich mit. Und das macht das binge watching von Biografien im Laufe ihrer Verfertigung, das Langzeitbeobachtungen gestatten, so attraktiv. Es passiert am Ende zwar immer nur das, was allen passiert – Hoffnung und Enttäuschung, Glück und Liebe, Scheidung und Verlust. Aber es vollzieht sich vor unseren Augen und geschieht Figuren, die einem im Laufe der Zeit vertraut und nahe sind.

Das Projekt One Way Boogie/27 Years Later erinnert derweil daran, dass das Vergehen von Zeit nicht nur einen sentimental-persönlichen Kern hat. Denn was sich in der Transformation des Kindheitsortes vor der Kamera von James Benning ereignet, ist der Strukturwandel von Gesellschaft, der im Hintergrund privater Leben passiert.

In diesem Fall geht es um den Niedergang einer alten Industrie, bei Sam Klemke um das Aufkommen einer neuen. Das ist zumindest die berührende Pointe von Sam Klemke’s Time Machine, dem Kompilationsfilm, den Regisseur Matthew Bates aus dem selbstaufgenommenen Material montiert hat. Denn irgendwann entsteht um Klemkes stetiges Dokumentieren des eigenen Lebens – auch wenn es nicht so glorreich verläuft, wie vielleicht erhofft – mit Youtube ein Kontext, in dem Klemkes ganze Pionierarbeit sinnhaft wird – als ein Archiv, in dem Zeit festgehalten ist.

 

Matthias Dell ist Medienjournalist, freier Redaktor und Autor beim Deutschlandradio. Er schreibt u.a. für Cargo. Im Frühling erscheint sein Buch «Peter Hacks auf der Fenne in Gross Machnow (1974-2003)» im Verlag für Berlin-Brandenburg.

 

Die Filmreihe ist eine Gemeinschaftsproduktion mit dem Filmpodium in Zürich. Herzlichen Dank für die schöne Zusammenarbeit! Ein grosser Dank geht auch an Marian Petraitis für die Unterstützung bei der Konzeption der Reihe.

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