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Filmreihe

 
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David Lean

Abenteuerliche Weiten


Seine Filme führen in die grandiosen Weiten, hin zu Ozeanen und Wüsten, aber auch in den dichten Dschungel – und dabei direkt hinein ins Abenteuer! Der britische Ausnahmeregisseur David Lean war ein Meister des Kino-Epos, in seinen Klassikern wie Lawrence of Arabia, Doctor Zhivago oder The Bridge on the River Kwai verbinden sich grosse Bilder mit ebenso grossen Gefühlen und der unvergesslichen Präsenz von Stars wie Alec Guinness und Peter O’Toole; mitreissende Kinoerlebnisse, die leidenschaftlich, aber nie sentimental daherkommen und erst auf der Leinwand ihre ganze Kraft entfalten. Und auch sein Frühwerk, geprägt von schwarzen Komödien (Blithe Spirit), präzisen Literaturverfilmungen (Great Expectations, Oliver Twist) und melancholische Romanzen wie Summertime – Venedig im Sommer war nie schöner als hier! – oder Brief Encounter ist packendes Kino voller visionärer Bildhaftigkeit.  

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Kann man sich etwas Britischeres vorstellen als die Filme von David Lean? Sie sind nicht denkbar ohne die Dialektik von Weite und Gefangenschaft, Kolonialismus und Neurose, Insel und Ozean. Britisch sind seine Filme im Übrigen auch in ihrer Haltung gegenüber der menschlichen Psyche. In Leans Filmen kommen wir den Menschen gelegentlich zwar sehr nahe, aber etwas fehlt dabei vollkommen. Auf die Frage, was er am allerwenigsten mag im Kino (und auch sonst), antwortete er: Sentimentalität. Das sagt jemand, der unter anderem mit Ryan’s Daughter (1970) einen Roman von jenem Gustave Flaubert verfilmte, der Lehrjahre des Gefühls und eine Schule der Empfindsamkeit verfasste! Das erste Geheimnis der Filme von David Lean: Sie behandeln Gefühle ohne auch nur einen Hauch von Sentimentalität. Und das zweite Geheimnis: Sie suchen, ganz direkt und in einer unvergleichlichen Filmsprache, aus der Enge das Weite. Man muss David Leans Filme ansehen, wenn man begreifen will, was Raum ist. Nicht nur im Kino.
 
Und David Lean selbst? Er war einfach perfekt darin, zur eigenen Legende zu werden. Er war zweifellos fanatisch bei der Arbeit, konnte dann aber wieder durchaus charmant und gar «väterlich» wirken, um im nächsten Moment durch leicht bizarres Verhalten Verwirrung auszulösen. Aljean Harmetz von der New York Times attestierte ihm einen «imperialen Ausdruck«, und er bewege sein Haupt «wie ein Löwe, der seine Mähne schüttelt«. Auf jeden Fall, wie man so sagt, eine imposante Erscheinung, die nicht einmal die Hälfte von dem preisgibt, was in ihm vorgeht, und öffentliche Auftritte eher über sich ergehen lässt, als sie zu geniessen. Kurzum: ein idealer Repräsentant seiner Filme.
 
David Lean hat das Kino von Kind auf in sich. Als «Klappenjunge» hat er begonnen, war Cutter (bei Regisseur Michael Powell, der ihn später einen «Perfektionisten zum Verrücktwerden» nannte), Kamera- und Regieassistent, bevor er 1942 zusammen mit Noël Coward die Inszenierung von In Which We Serve übernahm- Es ist eine einigermassen propagandistische Geschichte über die Besatzung eines Kriegsschiffes, die in bedingungslosem Einsatz gegen den Feind zusammenfindet, ohne dazu der eigentlichen militärischen Pressionen zu bedürfen. Aber schon hier steckt der kommende David-Lean-Held in mehreren Figuren: Er wird nicht «gemacht», es ist in ihm. Es sind Selbstschöpfer, die Protagonisten in den gewaltigen Epen: Lawrence, Schiwago, Ryan. Und diese Selbstschöpfung braucht eine grosse Bühne. Daher ist in In Which We Serve auch schon das prägende Leitmotiv zu sehen: die schmerzhafte und manchmal schmerzhaft schöne Verbindung von grandioser Weite (in Ozeanen, Wüsten, Dschungeln und Wiesen) und engen Räumen (in Schiffen, Häusern, Gefängnissen, Käfigen). Der David-Lean-Mensch ist ein Wesen, das sich formt zwischen dem Eingeschlossensein in der Enge und dem Verlorensein in der Weite.
 
Mit Noël Coward und Ronald Neame zusammen gründete Lean eine eigene Produktionsgesellschaft, und die Zusammenarbeit der drei sehr unterschiedlichen Charaktere prägt die erste Phase von Leans Karriere als Regisseur. Für Cineguild entstanden zunächst weitere Coward-Verfilmungen, darunter 1945 die Geisterkomödie Blithe Spirit (1945) und im selben Jahr noch Brief Encounter (1945): Das tragische Spiel zwischen Ich und Welt spielt sich hier im einigermassen trostlosen Restaurant eines Bahnhofs ab. Ein Liebespaar, beide verheiratet, findet hier in ihrer Beziehung Momente von Stille und Konzentration gegen den Lärm da draussen. Und damit ist der David-Lean-Raum schon beschrieben: der enge Raum, der sich zur Unendlichkeit hin öffnet, hier zu den Gleisen, die irgendwo- und nirgendwohin führen, später zur Wüste, zum Dschungel, zu endlosen Wäldern oder, anders gesagt, zu einer Welt, in der man nicht zu Hause ist. Die Peggy Ashcroft von A Passage to India (1984) möchte das wahre Indien kennenlernen und kommt doch zunächst nicht über das Luxus-Ghetto der britischen Kolonialgesellschaft hinaus.
 
Interessanterweise hat David Lean keine seiner grossen Epen, sondern die scheinbar leichtherzigere Romanze Summertime (1955) zu seinem Lieblingsfilm erklärt, ein weiteres «brief encounter» (zwischen Katharine Hepburn und Rossano Brazzi) in der Lagunenstadt Venedig, die weder happy noch melodramatisch endet, sondern nur damit, dass der Zug die Stadt auf der langen Schienen-Mole wieder so verlässt, wie er sie am Beginn erreichte. Viel ist da von seinem Stil und seiner Leidenschaft für die Bilder, schon mit der ersten Einstellung, der Dampfeisenbahn, die über die Mole und das Wasser der Lagune nach Venedig fährt, an Segelbooten vorbei, und das Meer und der Dampf bilden eine sonderbare (anti-)impressionistische Komposition, als hätte William Turner bei den Dreharbeiten vorbeigeschaut. Überhaupt: die Farben. Man könnte wohl sagen: Als David Lean die Farbe entdeckt hatte, war sein Kino nicht mehr zu halten. Und wenn sich die Kamera in dieser Introduktion noch einmal erhebt, haben wir wieder einen der Lean-Momente von der Endlosigkeit der Welt. Aber schon im nächsten Schnitt sind wir in der Enge eines Abteils, und Katharine Hepburn nutzt einen Venedig-Prospekt vor ihrer Filmkamera als Authentizitätsnachweis - auch sie, vielleicht, auf der Suche nach dem «Echten».
David-Lean-Filme sind gewiss keine autobiografischen Filme, aber es sind Filme über einen sehr spezifischen, sehr britischen Menschentypus, der in jedem Film von einer anderen Seite betrachtet wird, immer aber in einem Grundkonflikt zwischen der geschlossenen äusseren Form und den inneren Widersprüchen. Das ist nicht zuletzt für seine Schauspieler:innen eine schöne Herausforderung: Sie müssen Menschen, etwa Kolonialisten spielen, die gerade verbergen wollen, was in ihnen vorgeht, und die Anstrengungen sichtbar machen, die das kostet: Der Alec Guinness von The Bridge of the River Kwai (1957) wie der Peter O’Toole von Lawrence of Arabia (1962), aber, etwas weniger dramatisch, der James Fox von A Passage to India (1984) erleben überdies die schmerzhafte und sehr persönliche, sehr körperliche Begegnung mit einer Gegenfigur, die zugleich Spiegelung und Widersacher ist. In ihnen erkennt man diesen Lean-Helden noch deutlicher. Als einen, dem gegenüber man Bewunderung und Abscheu zugleich entwickeln kann.
 
Es wäre schwierig, daraus eine politische Haltung abzuleiten: Wenn ein David-Lean-Film zu Ende ist, arbeiten die Widersprüche und Konflikte in uns weiter. Von nichts ist man so entfernt wie von einer «Lösung«, aber erfüllt mit unvergesslichen Bildern.
 
Und mit grossen Worten. Denn es darf nicht unerwähnt bleiben, dass David Lean, in all seiner visionären Bildhaftigkeit und als Schöpfer einer eigenen cineastischen Bewegungsform, seine literarischen Vorlagen (tatsächlich sind Originalstoffe eher selten) mit grösstem Respekt behandelt. Nicht nur, dass er bei den Dialogen mit Behutsamkeit vorgeht, immer nimmt er auch die Rhythmen und stilistischen Eigenheiten seiner Vorlagen auf. Besonders deutlich ist das bei seinen Dickens-Verfilmungen Great Expectations (1946) und Oliver Twist (1948) zu sehen, deren Stimmungsbilder nicht so sehr zeitgenössischen Illustrationen gleichen, als vielmehr direkten Übertragungen von literarischen in cineastische Schreibweisen entsprechen. Man spürt eine förmliche Gegenwart von Dickens, Flaubert, E.M. Foster oder Boris Pasternak in den entsprechenden Filmen. Was ein Autor beschreiben kann, das muss auch in dem Film sein. Und wenn Boris Pasternak das kräftig spritzende Wasser eines Flusses beschreibt, durch das eine Truppe Kavalleristen reitet, dann soll auch ein kräftig spritzendes Wasser in Doctor Zhivago (1965) zu sehen sein. Auch wenn man dafür den Fluss, den man als Schauplatz wählte, erst einmal etwas tiefer ausbaggern muss. Ein Perfektionist, der einen wahnsinnig machen kann. Wahnsinnig glücklich, manchmal.
 
Georg Seesslen , geb. 1948 in München, ist ein deutscher Autor (mit vielen Standardwerken u.a. zu Genres wie dem amerikanischen Gangsterfilm, zu Stanley Kubrick, Lars von Trier und zu Themen wie Digitales Dating), Feuilletonist, Cineast sowie Film- und Kulturkritiker.
 

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