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Filmreihe

 
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ANIME

Imagination Illimitée


Die Vorstellungskraft im Zeichentrick ist grenzenlos. In den Universen wirbeln Zeit und Raum, Vergangenheit und Zukunft, Traum und Wirklichkeit durcheinander, und alles scheint möglich: halluzinogene bis surreale Weltraumabenteuer, tierische Verwandlungen, Sprünge in subjektive Gefühlswelten und mitten hinein in historische Revolutionen. Wir setzen die letztjährige, äusserst erfolgreiche Anime-Reihe fort, widmen uns Klassikern grosser japanischer Meister wie Hayao Miyazaki und Freigeistern wie Masaaki Yuasa. Und erweitern den Fokus nach Frankreich, Afghanistan und in den Iran. Unsere Specials führen ein in das Werk von Satoshi Kon, laden zum Austausch über Japanische Popkultur, bitten in Zusammenarbeit mit KOFF/swisspeace zum Gespräch über den animierten Dokumentarfilm. Ausserdem ist Künstler Blutch im Stadtkino zu Gast, in Kooperation mit dem Cartoonmuseum Basel. Unendlich «animierende» Abenteuer.

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DER ANIMATIONSFILM IM 21. JAHRHUNDERT 


Die Freiheiten des Animationsfilms sind grenzenlos. Er hat das Potenzial, die Welt jedes Mal anders und immer wieder neu darzustellen und zu reflektieren. Erst seit kurzem aber beginnen die Filmschaffenden, diese Freiheiten auch in abendfüllenden Filmen zu nutzen. Jahrzehntelang war der Animationsfilm im Westen gleichbedeutend mit Walt Disney, ein Synonym für Kinder- und Familienfilm. Disney war Segen und Fluch zugleich: Gewiss hat Disney Entscheidendes beigetragen zu Entwicklung und Popularisierung des Animationsfilms – sein Erfolg und seine Quasi-Monopolstellung verhinderten jedoch, dass inhaltliche und künstlerische Innovationen, die die Disney-Blaupause unterliefen, sich bei einem breiten Publikum durchsetzen konnten.

Glücklicherweise ändert sich das. Nicht zuletzt die Rezeption des japanischen Anime im Westen vermittelt seit etwa 30 Jahren ein breiteres Verständnis für animierte Unterhaltung. Der Anime richtet sich primär an Jugendliche und Erwachsene und kann deshalb ganz andere Stoffe aufgreifen. Es ist kein Zufall, dass der Durchbruch des Anime im Westen dank dystopischer Science-Fiction-Thriller wie Akira (1988) und Ghost In Shell (1995) erfolgte. Ihr spektakulärer Mix aus Rasanz, Gewalt und Gesellschaftskritik, der allen Stereotypen des westlichen Animationsfilms widersprach, überwältigte das Publikum. Interessanterweise aber beeinflussten sie den amerikanischen Realfilm stärker als den Animationsfilm.

 

Von Mädchen und Ökokatastrophen

Bereits der älteste Anime dieses Programms zeigt wesentliche Besonderheiten des Anime auf: Hayao Miyazakis Nausicaä aus dem Tal der Winde (1984). Nausicaä ist keine Prinzessin, die gerettet werden muss und mit ihrem Traumprinzen eine Familie gründet. Sie ist im Gegenteil ein unangepasstes und mutiges Mädchen, das seine Gemeinschaft vor einer ökologischen Katastrophe und einem Krieg bewahrt. Ausserdem werden die Charaktere und Konflikte differenziert gezeichnet und nicht als eindeutiger Kampf zwischen Gut und Böse vereinfacht. In einem westlichen Mainstreamfilm wäre eine solche Geschichte vor 40 Jahren undenkbar gewesen.

Da sich der viele Anime vornehmlich an Jugendliche richten, sind nicht überraschend einige der schönsten Coming-of-Age-Filme Animes, und einige davon stammen von Mamoru Hosoda. In Filmen wie Das Mädchen, das durch die Zeit sprang (2006), Der Junge und das Biest (2015) und Wolf Children (2012) findet er poetische, fantastische, sich jedoch immer wahrhaftig anfühlende Bilder für die Wirren dieser turbulenten Übergangsphase. Ame und Yuki sind die Kinder einer menschlichen Mutter und eines Wolfs. Ihre wölfische Seite müssen sie jedoch, um in der japanischen Gesellschaft zu überleben, verheimlichen. Der Wolf wird zur Metapher für das Anderssein, das Aussenseitertum, die Nonkonformität, die Angst vor Unverständnis und Ausgrenzung. Die Auseinandersetzung mit ihrem inneren Wolf führt Ame und Yuki im Lauf des Films zu sich selber – und auf zwei unterschiedliche Lebenswege.

Im Realfilm wirken Metaphern oft aufgesetzt und drohen die Realitätsillusion zu brechen – als Realfilm wäre Wolf Children ein Fantasyfilm. Als Anime hingegen ist er eine berührende und trotz der Wolfsmetapher immer glaubhafte, realistisch anmutende Coming-of- Age-Ballade. Weil der Animationsfilmer seine Welt von Grund auf selber schafft, kann er auch fantastische Metaphern so einbauen, dass sie wie ein natürlicher Teil dieser Welt wirken. Sein metaphorisches Potenzial verleiht dem Animationsfilm einen ungeheuren Resonanzund Bedeutungsraum.

 

Die Diva und der Schlüssel

Der Einfluss des viel zu früh verstorbenen Satoshi Kon auf Hollywood ist unübersehbar – ein Chris Nolan etwa hat sich wiederholt von ihm «inspirieren» lassen. Kein Wunder: Satoshi Kon ist inhaltlich wie gestalterisch einer der kühnsten und virtuosesten Filmerzähler überhaupt. In Millennium Actress (2001) sucht ein Dokumentarfilmer eine alternde Diva, Chiyoko Fujiwara, auf und bringt ihr als Geschenk einen Schlüssel mit. Dieser Schlüssel, den sie verloren glaubte, löst einen Tsunami an Erinnerungen an die (unerfüllte) Liebe ihres Lebens aus. Von da an läuft der Film auf mehreren Realitäts-, Zeitund Bewusstseinsebenen ab: Kon verknüpft die Interviewsituation mit Erinnerungen, Szenen aus Fujiwaras Filmen, Träumen etc. zu einer rasanten Collage, die tief in Fujiwaras Lebensgeschichte und Persönlichkeit dringt. Trotz der phasenweise schwindelerregenden Montage weiss das Publikum immer, auf welcher Ebene es sich gerade befindet. Zum einen gestaltet Kon die Sprünge von einer Ebene zur nächsten virtuos mit Stilmitteln wie Match Cuts, Bewegungen, Farben, Analogien, Kontrasten etc., zum anderen nutzt er eine wesentliche Eigenschaft der Zeichnung: Dank ihrer Stilisierung ist sie einfacher und schneller zu lesen als das fotorealistische Bild, zentrale Bildinhalte lassen sich besser priorisieren und damit der Blick des Zuschauers genauer führen. Die Übergänge können damit fliessender gestaltet und die verschiedenen Ebenen nahtloser zu einer organischen Filmrealität verknüpft werden als im Realfilm. So entfaltet Kon ein Tempo und eine Komplexität, die in einem Realfilm vermutlich nur verwirrend wirken würden.

 

Atemlose Stilbrüche

Überall noch eins drauf setzt Masaaki Yuasa, der Freigeist des Anime: Er lotet und kostet die grenzenlosen Freiheiten des Animationsfilms aus wie kein anderer. Mind Game (2004) ist purer Wahnwitz. Die Story um Ex-Freundinnen, Sex, Yakuza, Tod, Wiedergeburt und Begegnungen mit Gott ist haarsträubend; gestalterisch wechselt Yuasa atemlos Stile und Techniken – bisweilen wirkt es, als hätten ein Dutzend eigenwillige Regisseure zusammenzuarbeiten versucht. Ebenso hemmungslos spielt er mit Metaphern, absurden Übertreibungen, krudem Slapstick und surrealem visuellem Humor. So entfesselt er ein anarchisches und subversives Feuerwerk an narrativem und visuellem Irrsinn, wie sich das seit Tex Avery in den 1940er Jahren niemand getraut hat.

Letztlich aber nutzt Yuasa einfach nur das, was für den Animationsfilm selbstverständlich sein sollte: Der Animationsfilm ist, wie gesagt, frei, eine eigene Welt und ihre Schwerkräfte zu schaffen. Von einem Frame zum nächsten ist alles möglich, 24 mal pro Sekunde. Im animierten Kurzfilm ist diese Freiheit essenziell, sie gehört sozusagen zu seiner DNA – im Langfilm wird sie indes viel zu selten genutzt. Aus Angst, das Publikum zu überfordern oder seine Erwartungen zu enttäuschen, trauen sich die allerwenigsten Filmschaffenden, mit den Konventionen des Realfilms zu brechen und eine eigene Sprache zu entwickeln. Diese Angst kennt Yuasa nicht – und ist mit seinen Fernsehserien und Filmen verblüffend erfolgreich.

 

Weg ins Unsichtbare

Der vordergründig wohl überraschendste Trend im Aninmationsfilm der letzten rund 15 Jahre ist zweifellos der animierte Dokumentarfilm. In Persepolis (2007) erzählt die in Frankreich lebende Iranerin Marjane Satrapi von ihrem Aufwachsen im Iran der Ayatollahs und landete einen internationalen, mit Preisen überhäuften Erfolg. Auch Satrapi und ihr Co-Regisseur Vincent Paronnaud machen nichts anderes, als bestimmte Eigenheiten und Stärken des Animationsfilms zu nutzen: Der Blick auf die Welt ist persönlich, er suggeriert nicht Objektivität, sondern die Suche nach einer inneren Wahrheit. Der Animationsfilm geht an Orte, arbeitet mit Metaphern, macht Gedanken und Gefühle sichtbar, die der Kamera verborgen bleiben. Dazu kommt die Abstraktion der Zeichnung, die die Realität auf ihre Essenz verdichtet. Marjane Satrapi in Persepolis ist die junge Marjane Satrapi, steht aber auch für viele andere Mädchen in einer ähnlichen Situation und bietet sich dem Publikum zusätzlich als Identifikationsfigur an. Teheran ist Teheran, aber auch jeder andere Ort, an welchem religiöse Repression und Krieg herrschen. Ein animierter Dokumentarfilm kann deshalb sehr universal sein – und heute, in der Zeit von Deep Fakes, ist er mindestens ebenso glaubwürdig wie der fotografische Film.

Während die grossen amerikanischen Produktionsfirmen Disney, Pixar und Dreamworks weiterhin auf den Familienfilm setzen, haben sich viele Animationsfilmschaffende in Japan und in Europa von seinem einengenden, stereotypen Vorbild emanzipiert. Indem sie die Freiheiten und die speziellen Fähigkeiten des Animationsfilms immer selbstbewusster und konsequenter zu einer eigenen Sprache entwickeln, sorgen sie dafür, dass der Animationsfilm heute so interessant und vielfältig ist wie nie zuvor.

 

Christian Gasser ist Autor und Kulturwissenschaftler.

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