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Filmreihe

 
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1928: Glanzjahr des Stummfilms

Neun Meisterwerke live vertont


«Just when they had perfected it, it was all over», konstatierte wehmütig Charlie Chaplin ... Das Jahr 1928 markiert nicht allein das Ende der Stummfilmkunst, sondern vielmehr ihren gloriosen Abgesang. Auf dem Gipfel visueller Beredtheit brachte sie einige der wichtigsten Klassiker der Filmgeschichte hervor. Regisseure wie Wsewolod Pudowkin, King Vidor, Victor Sjöström, Schauspielerinnen wie Lillian Gish und Louise Brooks standen auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und der surrealistische Film erlebte seine Geburtsstunde. Das Stadtkino Basel feiert die Vielfalt des späten Stummfilms mit Meisterwerken wie Show People, The Wind, Die Büchse der Pandora, The Docks of New York oder Un chien andalou und setzt zum wohltuenden Schweigen ihrer aussergewöhnlichen Bildkraft mit Live-Musikbegleitungen unterschiedlichster Stilrichtungen einen ausdrucksvollen Kontrapunkt.

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Einfühlsame Improvisationen klassischer Stummfilm-Musiker und spielfreudige Klangexperimente – von Jazz bis Elektro – von eigens zusammengestellten Basler Formationen unterstreichen die grossen Gefühle und kleinen Freuden der wortlosen Helden und versprechen manch unvergessliches Kinoerlebnis.

 

1928 war das Jahr vor dem Börsencrash des «Black Friday», aber auch das Jahr nach dem Jazz Singer, jenem Film, in dem Al Jolson die ersten Filmdialogsätze sprach. Das Filmschaffen in den USA stand im Zeichen der immer gewisser werdenden Ablösung des «stummen» durch den Tonfilm, während die Stummfilmkunst in Europa, aber auch im Fernen Osten eine letzte grosse Blüte erlebte.
Es ist ein beliebter Kniff, Geschichten von ihrem Ende her zu erzählen: Es erscheint zwingend, dass alles so hat kommen müssen, wie es kam. Selbst Filmhistoriker, besonders US-amerikanische, verfahren gerne auf diese Weise. In solcher Perspektive ist der Stummfilm nur ein unvollkommener Vorläufer des Tonfilms, und alle Filmdramaturgien gelten als primitiv, die nicht auf das reibungslose Storytelling und auf eine vorgespiegelte Natürlichkeit hinauslaufen. Übersehen werden dabei die unzähligen künstlerischen Ansätze zu einer Entwicklung des Kinos in andere Richtungen, wie sie möglich gewesen wäre – und womöglich noch Zukunft hat.
Stummfilme waren viel mehr als nur Tonfilme ohne Worte, sie waren eine eigene Kunstform. Gesprochene Dialoge und synchrone Geräusche wurden da so wenig vermisst wie etwa im Theater beim Ballett. Bezeichnend ist, dass selbst die Verantwortlichen von Warner Bros., als sie – dem Drängen der Elektroindustrie nachgebend – in erste Filme mit aufgezeichnetem Ton investierten, kaum den dialogisierten Sprechfilm anvisierten. «Who the hell wants to hear actors talk?», soll Harry Warner gesagt haben. Ganz in der Tradition des stummen, jeweils live vertonten Films dachte man vielmehr an eine aufgenommene Orchesterbegleitung und an Gesangsnummern.
Man hüte sich beim Blick auf die ersten rund 35 Jahre der Filmgeschichte vor Verallgemeinerungen: «Den Stummfilm» gab es nicht. Das gerade macht die Begegnung mit den stummen alten Filmen so anregend: Sie zeugen von einer Spannweite künstlerischer Ausdrucksformen, die mindestens so gross ist wie jene, die uns der Tonfilm üblicherweise präsentiert. In der Stummfilmzeit entwickelten sich nicht nur unterschiedlichste Genres, sondern auch prinzipiell unterschiedliche Ästhetiken. Die Herausforderung, täuschend echte Realitätsabbildung der fotografischen Filmkamera mit der «unnatürlichen», künstlichen Stummheit der agierenden Figuren zu vereinen, provozierte kreative Lösungen.
Die einen Filmemacher sahen vor allem die Nähe zum gemalten Bild, andere zur Pantomime, und die filmischen Melodramen lehnten sich an die grossen Opern an. Nur das Sprechtheater war etwas völlig anderes. Nirgends wurde das sichtbarer als bei der filmischen Adaption von Theaterstücken: Was auf der Bühne durch den Dialog vermittelt wurde, musste auf der Leinwand Bildaussage werden. So entwickelte etwa René Clair in Les deux timides eine besondere Meisterschaft, den Dialogwitz einer Boulevardkomödie durch filmische Gags zu ersetzen.
Im sowjetischen Kino behauptete sich Ende der Zwanzigerjahre lineares Erzählen neben wilden Montagen. Ein Ensemblefilm wie Boris Barnetts Das Haus in der Trubnaja-Strasse (Dom na Trubnoj) stand neben einer auf den Titelhelden konzentrierten Story wie Wsewolod Pudowkins Sturm über Asien (Potomok Tschingis-Chana) – für den bedeutenden Berliner Filmkritiker Herbert Ihering damals «das grösste Filmepos, das die Geschichte des Kinos kennt». Im US-Kino kontrastierte das realistische Milieubild in Josef von Sternbergs The Docks of New York mit der glitzernden Hollywood-Selbstbespiegelung in Show People von King Vidor.
In der Stummfilmzeit überschritten die Filmemacher mit Leichtigkeit Grenzen: jene zu anderen Künsten, jene zwischen den (heute weitgehend getrennt gesehenen) filmischen Genres und erst recht jene zwischen den Staaten. Nicht nur die Regisseure, sondern auch die Schauspielerinnen und Schauspieler konnten im noch «sprachlosen» Film problemlos grenzüberschreitend tätig werden. Was wäre Hollywood ohne Importe wie etwa die Schweden Victor Sjöström (anglifiziert: Seastrom) als Regisseur und Lars Hanson als Hauptdarsteller in The Wind? Und schwer kann man sich eine idealere Verkörperung von Frank Wedekinds Lulu vorstellen als die Amerikanerin Louise Brooks in Die Büchse der Pandora von Georg Wilhelm Pabst.
Der im Vergleich zum Tonfilm bescheidenere materielle Aufwand liess auch grösseren Spielraum für eigenwillige Autorenfilme und Experimentelles. 1928 kamen nicht nur all die genannten Beispiele eines hoch entwickelten stummen Erzählkinos zur Uraufführung. Im selben Jahr erlebte auch Germaine Dulacs La coquille et le clergyman seine stürmische Premiere, wenig später gefolgt von Luis Buñuels Un chien andalou, zwei Filme, die verdrängtes Begehren zu surrealistischen Szenen steigern.
Die Meisterwerke des späten Stummfilms vermögen uns – allenfalls nach einem kurzen Irritationsmoment des Dialogentzugs – noch heute unmittelbar anzusprechen.

 

Martin Girod

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