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ARCHIV | Filmreihe

 
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WELTENZAUBER

SKURRIL UND SURREAL


Mit Poor Things eröffnet Yorgos Lanthimos ein ureigenes Universum. Der Film erzählt eine bunte Selbstermächtigungsgeschichte in einem 19. Jahrhundert – ist aber eigentlich irgendwo in der zeitlosen Fantasie angesiedelt. Ein «Einhorn-Film»? Ja, aber bei Weitem nicht so selten wie das Fabelwesen: Die hundertjährige Filmgeschichte ist reich an poetisch-fantastischen Erwachsenenmärchen, die von verspielten Verrücktheiten, farbigen Frivolitäten und tollkühnen Träumen erzählen. Sie stehen quer zum kalkulierenden Mainstream und überraschen mit ihrer lustvollen Art, neue Realitäten zu erkunden. Wir widmen uns diesen fantastischen Exzessen und tauchen mit einem bildgewaltigen Programm ab in das Surreale, das Exzentrische und das Absurde.

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Narrationen wider die Regeln und alle Wahrscheinlichkeit

 

«We’re not in Kansas anymore.» Der sprichwörtlich gewordene Satz aus Victor Flemings Kinderbuchverfilmung und Musical-Meilenstein The Wizard of Oz (1939) meint keinen schlichten Ortswechsel, er zeigt einen fundamentalen Weltenwandel an. Gegen allerhand Widrigkeiten: Judy Garland war für ihre Rolle der naiven Bettelprinzessin eigentlich zu alt. Der den Dimensionenwechsel vollziehende Tornado war ein Musselin-Strumpf inmitten von Miniaturen. Und das aus dem Kansas-Himmel ins Zauberreich Oz stürzende Haus fiel in Wirklichkeit auf einen mit Wolken bemalten Filmsetboden. Das eine Land ist vom anderen aus eben nur mit besonderen Mitteln zu erreichen. Der Unterschied zwischen beiden beschränkt sich auch nicht nur auf den nach 85 Jahren noch immer beglückenden Wechsel von Sepia zu Technicolor. Der Unterschied liegt viel eher auf der Leinwand, die den Kinosaal vom «Somewhere Over the Rainbow» trennt: Um dieses Reich der Fantasie zu erreichen, muss die Welt aus den Fugen gehen, Naturgesetze aufgehoben werden. Also achten Sie nicht auf den Mann hinter dem Vorhang und nehmen Sie die gelb gepflasterte Strasse!

 

Möglicherweise führt diese Sie ins Inland Empire, ein von David Lynch 2006 ersponnenes Raum-Zeit-Gespinst, das kalifornische Albtraumfabrik und polnische Hinterzimmer zusammenflicht. Darin die Schauspielerin Nikki Grace (Laura Dern) - die eine Rolle im Remake eines Melodrams übernommen hat, dessen Hauptdarstellerin ermordet worden ist – mit einer satten Identitätskrise umherirrt, was wiederum den Zuschauer:innen Hirnsausen beschert. Oder Sie landen im Brachland Ruandas, wo die Minenarbeiter sich nicht nur darüber klar werden, dass alle Räder stillstehen, wenn ihr starker Arm das will. Neptune Frost (Anisia Uzeyman, Saul Williams, 2021) nimmt den Ausbeutungszusammenhang, der den globalen Süden im Würgegriff hält, zum Ausgang einer queeren Anklage der korrupten politischen Strukturen, die diesen erlaubt haben und weiter ermöglichen. Weder Neptune Frost noch die anderen in Rede stehenden Filme verfolgen jedoch eine Agenda, denn sie sind keine Message-Movies. Sie sind freie Erfindungen im doppelten Wortsinn, Geschöpfe der Fantasie, Einhörner.

 

Im vierten Gedicht des zweiten Teils der 1923 erschienenen «Sonette an Orpheus» schreibt Rainer Maria Rilke über das Einhorn: «Zwar war es nicht. Doch weil sie’s liebten, ward / ein reines Tier. Sie liessen immer Raum. / Und in dem Raume, klar und ausgespart, / erhob es leicht sein Haupt und brauchte kaum // zu sein. …» Mit «sie» sind freilich die Menschen gemeint, deren Fantasiebegabung aus Traumgespinsten Wesen werden lässt, die es zwar in Wirklichkeit nicht gibt, die aber Wirklichkeit für sich behaupten können. Unwahrscheinliche Daseinsformen, Zwitter, Monstren, vordergründig nicht sonderlich nützlich, dafür auf den ersten Blick als komplex zu erkennen. Und wo wären diese besser aufgehoben als auf einer Leinwand, die reflektiert, was es heutzutage nicht mal mehr als greifbaren analogen Filmstreifen gibt, sondern nur noch als Nullen und Einsen im digitalen Un-Raum.

 

Diese Reihe verdankt sich im Übrigen dem immensen Erfolg, den der äusserst seltsame Film Poor Things (2023) (des für seine äusserst seltsamen Filme weithin bekannten, um nicht zu sagen berüchtigten, griechischen Drehbuchautors und Regisseurs Yorgos Lanthimos) Anfang des Jahres feierte. Da gehen einem die Augen über, klingen die Ohren und kommt jemand aus dem Staunen nicht mehr heraus: wenn Emma Stone in der Rolle von Frankensteins Monster Bella Baxter ihre Sexualität entdeckt und erkundet, bis die Bettfedern quietschend den Dienst quittieren. Und noch so einiges mehr.

 

Eines der distinktiven Merkmale, das diese Reihe filmischer Exzesse eint: Mit einem einzigen Satz ist ihnen jeweils nicht beizukommen; mehrere Sätze tragen allerdings nur zu weiterer Verwirrung bei. Die allesentscheidende Bedingung für die Rezeption ist ein offener Geist sowie die Bereitschaft, auch mal fünfe grade sein zu lassen. Logik, Stringenz, Ökonomie und konventionelle Narration spielen hier eine Nebenrolle.

 

Regeln, wie wir sie aus Genres kennen, winken allenfalls von Ferne wie die sprichwörtlichen Zaunpfähle, während die filmische Erfindung an ihnen vorbeiprescht. Auf zu neuen Ufern! Hin zu Höherem! Wie beispielsweise in Jim Jarmuschs Only Lovers Left Alive (2013): Der Vampirfilm breitet hier seine Fledermaus- Schwingen aus, flattert zwischen Gitarrennerds im Ruinen-Detroit und Literaturliebenden im schwülen Tanger umher – seinen eigenen, abendländischen Geburts-Kulturraum miterzählend und ausweitend. Oder in Zhang Yimous Hero (2002), der mit Primärfarben um sich wirft, Schwerter wirbeln lässt, Pfeilhagel wörtlich nimmt, und ein vermeintlich lupenreines Wuxia- Melodram in drei Handlung antäuschenden Anläufen als politische Parabel auflädt. Eine visuelle Überwältigungsstrategie, in der man zudem den Totalitarismus der propagierten Staatsform gespiegelt sehen kann. Oder in Peter Greenaways Drowning By Numbers (1988), in dem sich, was eine skurrile englische Krimikomödie hätte sein können, auflöst in einen von einem komplizierten Regel- und kunstvollem Beiwerk beherrschten Raum – aus dem schliesslich die drei Nornen treten, die das Schicksal der Männer bestimmen. Wo der Grenzgänger Greenaway der bildenden Kunst gegenüber den filmischen Konventionen immer wieder den Vortritt lässt, um abstrahierende Wirkungen zu erzielen, nutzt die Schweizer Bildhauerin und Malerin Niki de Saint Phalle die Filmkunst, um den eigenen Traumata verschlüsselnd und entbergend zugleich beizukommen. Un rêve plus long que la nuit dient ihr 1976 dazu, die Bilder einer unter Druck geratenen Psyche – unschwer als ihre eigene zu erkennen – mit der Hilfe der Traumlogik in Märchenelemente zu bannen. Ein selbsttherapeutischer Akt der Befriedung, der dennoch das Ungestüme von Trieben und Vorstellungskraft ins Recht setzt. Auch die pastellbunte Suburb, die Tim Burton, der Meister der Märchen für Erwachsene, nach dem Ort seines Aufwachsens modellierte und in der er Edward Scissorhands (1990) ansiedelt, ist alles andere als «normal». In ihr schneidet ein in schwarzes Leder voller Haken und Ösen gekleideter Struwwelpeter Haare wie Hecken mit seinen Händen: Scheren, die der Schöpfer des Wesens eigentlich noch hatte austauschen wollen, bevor ihm das Herz versagte. Genau das will uns nun brechen, angesichts des Schicksals jener Körper gewordenen existenziellen Nähe-Distanz-Metapher, die Edward ist.

 

Doch nicht nur fehlt die Schublade, in die man Filme wie diesen stecken möchte, um die Ordnung wiederherzustellen. Nein, in ihrer Präsenz zerbröselt gar der ganze Schubladenkasten. Als habe ihn ein Schwarm von Riesenfliegen zerfressen, Gefährten jenes Insekts, das den beiden rührenden Volltrotteln Jean-Gab und Manu bei einem Autodiebstahl in die Hände fällt. Sie taufen die Fliege Dominique und wollen sie, ja klar!, zur Bankräuberin abrichten. Ausgedacht hat sich dieser krasse Unfug unter dem Titel Mandibules (2020) Quentin Dupieux, der derzeit unangefochten herrschende König des Kinos des Absurden. Ein Autorenfilmer, der in einem zweiten Leben als Elektromusiker und DJ Mr. Oizo vermutlich mehr Geld verdient. Was ihn zum Glück nicht davon abhält, ein die Wirklichkeit prüfendes Absurd-Wunderwerk nach dem anderen zu erschaffen. Logisch, dass einer seiner vom Sinn weniger befreiten als diesen vielmehr auslotenden Wege ihn früher oder später, 2023 nämlich, zu Salvador Dalí führen würde. Das Ergebnis, Daaaaaalí!, nimmt es an Surrealität mit dem porträtierten Surrealisten locker auf. Eine Fingerübung in Verwirrung und Erstaunen, die sich harmonisch einreiht in die hier vorgestellte Sammlung an lustvoll skurrilen Lauf-Bildern.

 

Alexandra Seitz ist freie Autorin und Filmkritikerin. Sie lebt und arbeitet in Berlin und Wien.

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