ISRAEL
Einblicke
Der 7. Oktober 2023. Der Gazakrieg. Die schrecklichen Ereignisse und die mediale Bilderflut sind schwer auszuhalten und machen betroffen. Sie verweisen gleichzeitig auf die jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen und Gewalttaten im Nahen Osten, die alle eine Vielzahl von persönlichen und politischen Schicksalsschlägen nach sich gezogen haben. In einem gewissen Abstand zur Aktualität nehmen die Spiel- und Dokumentarfilme der beiden Reihen ‹Israel – Einblicke› und ‹Palästina – Einblicke› den POV, den Blickpunkt von Menschen ein, die zwischen Mittelmeer und Jordan leben. Die Filme eröffnen die Möglichkeit, sich vertiefter mit ihren Lebensrealitäten und Alltagserfahrungen zu beschäftigen und neue Einsichten zu gewinnen.
Das ‹Israel – Einblicke› und ‹Palästina – Einblicke› Programm wird unterstützt von:
Stiftung Dialog zwischen Kirchen, Religionen und Kulturen
GGG Basel
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Der französische Filmemacher Jean Renoir hat einmal gesagt: «Das wirklich Schlimme ist, dass alle ihre Gründe haben.» Dabei hat er nicht bewusst auf den seit Hunderten Jahren lodernden und spätestens 1948 mit der Gründung des Staates Israel entflammten Konflikt zwischen arabischen und jüdischen Menschen in der Mittelmeer- Jordan-Region angespielt. Vielmehr ging es ihm um das Kino und dessen Fähigkeit, Konflikte aus verschiedenen Blickwinkeln zu zeigen, Unterschiede auszuhalten, Widersprüche aufzufächern und Politisches aus humanistischer Sicht zu betrachten. Nun ist es so, dass im Angesicht tagesaktueller Gräueltaten, jedwede historisierende oder mitfühlende Geste des Kinos zu verblassen droht. Ambiguität scheint nicht immer gefragt, das Aushalten des Anderen, des «Feindes», wie es in vielen Filmen der beiden Reihen «Israel – Einblicke» und «Palästina – Einblicke» heisst, nicht immer möglich.
Bilder sind niemals unschuldig, und in den hier ausgewählten, oftmals alltäglichen Einblicken des israelischen und palästinensischen Kinos geht es implizit auch darum, welches Narrativ weitergetragen wird. Das lässt sich nicht vermeiden, ist aber nur ein kleiner Teil dessen, was diese Filme charakterisieren. Sie zu sehen, verlangt einem einiges ab und öffnet gleichzeitig die Möglichkeit für dialogische Auseinandersetzung.
Im Kern nämlich zeigen diese Arbeiten allesamt, was es für einzelne Menschen bedeutet, in diesem Teil der Welt zu leben, zu arbeiten, zu denken, zu fühlen und zu kämpfen. Sie zeigen eine Lebenswirklichkeit, ohne diese gleich zu interpretieren. Im Durcheinander der so näher kommenden Perspektiven stellt sich eine Komplexität her, die notwendig ist, um wirklich etwas zu sehen. Es entsteht ein Mosaik individueller Erfahrungen, das die anderswo propagierte Existenz einer einzelnen Wahrheit hinterfragt. Was bedeutet es zu leben, zu überleben?
Da ist zum Beispiel eine palästinensische Mutter, die in einer engen Küche den Abwasch macht und ihrem Sohn sagt, dass er bei Tränengas einfach an einer Zwiebel riechen solle. Da ist ein melancholischer jüdischer Pianist, der jeden Abend in einer heruntergekommenen Bar in Tel Aviv Lieder zum Besten gibt, die er selbst schreibt. Darin thematisiert er die Schicksale der Barbesucher:innen, ihre verschiedenen Herkünfte und Überzeugungen. Dann ist da ein sowjetischer Jude, der zusammen mit seiner Familie in den 1970er-Jahren nach Israel kommt. Voller Hoffnung auf «Freiheit», die sogleich enttäuscht wird.
Ein Zitronenbaum blüht, ein alter Plattenspieler spielt patriotische Lieder, die Schallplatte ist so abgespielt, man erkennt fast nicht, in welcher Sprache. Latenter Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus, eine fragile Gesellschaft, dann doch wieder menschliche Gesten, Hilfsbereitschaft, ein Lachen, ein Funkeln in den Augen. Das alles existiert zugleich, weil das Leben komplexer ist als Vorurteile und politische Zuschreibungen.
Oder eine junge Frau aus den USA mit palästinensischen Wurzeln, die sich zunächst noch über einen wild fuchtelnden Strassenpolizisten amüsiert, später dann von einer Militärkolonne belästigt wird. Ein betrunkener Nachbar, oberkörperfrei auf der Terrasse, der die Lösung aller Konflikte im Alkohol erkennt. Man lacht, obwohl man nicht wollte. Ein Blick aufs Meer. Ein Strassenstrich. Das Licht über der Wüste Negev. Eine persönliche Erinnerung, die keinem Staat und keiner Religion gehört. Aber auch Einstellungen, die nichts mit der Handlung zu tun haben, die trotzdem bleiben: ein alter Schrottplatz, ein Garten mit Olivenhain, ein vergilbter Vorhang, eine steinige Küste, ein stickiges Grenzhäuschen.
Diese Orte und Gegenstände gibt es in den Filmen und in der Wirklichkeit – von ihnen wird nicht erzählt im Tagesdiskurs. Sie werden von Menschen bewohnt, die ihre Geschichte erzählen. Hier findet ein Leben statt, das von der Politik dominiert, aber nicht durchdrungen wird. Aber wie das Persönliche greifbar machen? Wie sich als Individuum hörbar, bemerkbar machen?
Die Filme der beiden Reihen zeigen die Kunst als Widerstandskraft. Weniger geht es dabei um einen persönlichen Ausdruck als um das Dokumentieren, ein Festhalten im doppelten Sinne. Einmal als Überleben und einmal als Bewahren. Das Tagebuch spielt dabei eine wichtige Rolle, etwa in David Perlovs Diary (1973-1983) oder Oslo Diaries (2018) von Mor Loushy und Daniel Sivan. In diesen Filmen wird geschrieben und gefilmt, um eine Übersicht in der durchs Trümmerfeld rasenden Geschichte zu behalten, aber auch, um etwas zu beweisen. Man dokumentiert das, was nicht vergessen werden soll. Bei Perlov laufen an Home-Movies erinnernde Familienaufnahmen zusammen mit dem sinnbildlichen Blick aus dem Fenster, dem Blick auf ein Israel, dessen Selbstidentität infrage gestellt wird vom Yom-Kippur-Krieg und einer konservativen Machtergreifung. Die Kamera wird zum Schutzschild vor der Wirklichkeit, aber durch sie ermöglicht sich auch eine Haltung zur Welt. In Life According to Agfa (1992) fotografiert eine Protagonistin mit ähnlichem Drang wie Perlov die Menschen, denen sie begegnet. In 5 Broken Cameras (2011) werden die aufzeichnenden Videokameras eines palästinensischen Demonstranten immer wieder zerstört. Auch er sagt, dass er sich sicherer fühle mit der Kamera, obwohl er wisse, dass das eine Illusion sei. Ganz im Gegenteil wird auf ihn geschossen, weil er filmt. Bilder sind mächtig und gefährlich, sie stehen in Verbindung mit einer Wahrheit, aber auch Macht. In den Bildern drückt sich etwas aus, was von offiziellen Narrativen nicht unbedingt akzeptiert wird. In Bye Bye Tibérias (2023) öffnet Lina Soualem die Tore in ihre Vergangenheit, zu ihren Wurzeln in Tiberias auch besonders über alte Videoaufnahmen. Diese Bilder erzählen von einer Zugehörigkeit, von einem Gefühl, das man am besten durch diese Bilder verstehen kann. Aus den Filmen spricht oft Hoffnungslosigkeit, aber sie selbst arbeiten dagegen an mit ihrer Geste, etwas sichtbar zu machen. Etwa La Belle de Gaza (2024) von Yolande Zauberman, der trans Frauen in Tel Aviv porträtiert, oftmals entstammen sie arabischen Familien. Aus deren Sicht erzählt sich die Geschichte wieder ganz anders. In einer Welt, in der Identitäten über Leben und Tod entscheiden, wandeln die Marginalisierten an einem doppelten Abgrund. Das Kino kann ihren Stimmen Gewicht verleihen.
Was es bedeutet, verschiedene Perspektiven miteinander in Berührung zu bringen, zeigt sich, wenn man das Ende von Amos Gitais Kedma (2002) mit dem Anfang von Annemarie Jacirs Salt of This Sea (2008) vergleicht. Beide Sequenzen zeigen eine Heimkehr, eine Rückkehr. In Kedma sieht man, wie 1948 abgekämpfte und von der Geschichte heimgesuchte jüdische Migrant: innen aus ganz Europa in Israel ankommen. Auf Booten werden sie von englischen Soldaten empfangen. Ihr «gelobtes Land» ist ein Schlachtfeld, die Einwanderung wird zunächst blockiert.
In Salt of This Sea durchläuft die arabischstämmige Protagonistin am Flughafen in Tel Aviv eine unwürdige Sicherheitsprozedur, wird mit persönlichen Fragen drangsaliert und in die Ecke gedrängt. Die dialektische Lösung, die sich aus diesen zwei Parallelen ergeben könnte, ist seit Jahrzehnten verstellt. So erzählen auch die Filme von einer unversöhnlichen Unvereinbarkeit, die sich wie ein unerbittliches Perpetuum Mobile immer weiter in die Zukunft gräbt. Paradise Now (2005) zeigt diesen Teufelskreis, aus dem niemand ausbrechen kann, besonders eindrücklich anhand der Geschichte zweier Selbstmordattentäter. Dass es so weitergehen könnte, scheint grausame Wirklichkeit. Die Würde des Menschen zu zeigen, ist das, was das Kino leisten kann.
Patrick Holzapfel arbeitet literarisch, kuratorisch und journalistisch. Er ist Herausgeber des Online- und Printmagazins Jugend ohne Film. 2022 nominiert für den Siegfried-Kracauer-Preis für die Beste Filmkritik. Gewinner des Open-Mike-Wettbewerbs für junge Literatur 2022. Im Juni 2024 ist sein Debütroman «Hermelin auf Bänken» erschienen.