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ARCHIV | Filmreihe

 
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ENNIO MORRICONE

C’ERA UNA VOLTA


Jede:r kennt Morricones Klänge. Seine Musik, oftgeprägt von volkstümlichen Instrumenten sowie wortlosem Gesang, vermittelt eine archaische, einfache und rohe Atmosphäre,die zugleich unberechenbar und authentisch wirkt. Morricone prägte nicht nur das italienische Kino und den Spaghetti-Westernder 1960er-Jahre, sondern überhaupt eine neue Generation italienischer Regisseure. Aus den 500 vielstimmigen Filmsoundtracks,für die der italienische Komponist verantwortlich zeichnet, präsentiert das Stadtkino Basel ikonische Filme, in denen Musik, Raum und Erzählung miteinander verschmelzen.

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Manche sagen, Filmmusik sei dann am besten, wenn sie nicht zu bemerken ist. Das ist natürlich Humbug. Freilich gibt es in Filmen musikalische Klischees, die brutal nerven und die man deswegen am liebsten gar nicht erst hören würde: das anschwellende Geigenmeer zum Beispiel, das den Happy-End-Kuss der Held:innen in Schmalz ertränkt. Die schockartigen Blechbläser-Stösse, die in Möchtegern-Horrorfilmen den Schrecken ersetzen sollen. Das Geflöte von Klarinetten und Oboen, die eine Heldenreise mal optimistisch, mal melancholisch begleiten. Der Popsong, der der verdichtenden Montage den Schwung verleiht. Das aus allen Rohren feuernde Mega-Orchester, das in Action-Brett und Space-Opera Verfolgungsjagd und Schlachtenlärm übertönt. Und dennoch gibt es sie, Musik, die nicht lediglich Begleitung ist und auch nicht nur als Geschmacksverstärker fungiert; das ist jene Musik, die den Bildern etwas hinzufügt und ihre Bedeutung erweitert, die eine Dimension schafft für Erkenntnisse – umfassender und tiefer als das, was man sich von einem Freizeitvergnügen in einem dunklen Saal erwartet hatte. Einer der Grössten in dieser Kunst der Öffnung ins Jenseits des Filmischen ist Ennio Morricone.

Geboren wird Ennio Morricone am 10. November 1928 in Rom; Vater Mario verdient den Unterhalt für die Familie als Trompeter in Unterhaltungsorchestern; der Sohn soll in seine Fussstapfen treten, also macht er ihn früh schon mit der musikalischen Notation und verschiedenen Instrumenten vertraut. Seine klassische Ausbildung erhält Ennio an der renommierten Accademia Nazionale di Santa Cecilia, dort studiert er zunächst Trompete unter Umberto Semproni, dann Komposition unter Goffredo Petrassi. Letzterer wird es seinem hochtalentierten Schüler auch später nicht vergeben, mit der Filmmusik eine in seinen Augen triviale Richtung eingeschlagen zu haben. Zeit seines Lebens hat Morricone mit diesem Konflikt zwischen U- und E-Musik zu kämpfen, zeit seines Lebens sieht er sich mit dem Vorurteil seiner Komponisten- Kollegen konfrontiert, dass es sich bei der musikalischen Begleitung filmischer Bilder nicht um «richtige» Musik handelt.

Stilistisch sortiert sich Morricone früh schon zur zeitgenössischen Avantgarde. Die Arbeiten von Igor Strawinsky, Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen beeinflussen sein Schaffen, doch auch Johann Sebastian Bachs Einsatz des Kontrapunkts liefert nicht zu unterschätzende Impulse für die Dramaturgie seiner Kompositionen. 1958 besucht Morricone die sogenannten «Darmstädter Ferienkurse», wo John Cage unterrichtet, sein legendäres Klavierkonzert «Music Walk» uraufführt und für Skandal sorgt. Von 1964 bis zu dessen Auflösung 1980 wirkt Morricone in der einflussreichen «Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza» mit, die als das erste experimentelle Komponisten-Kollektiv gilt und die Morricone bevorzugt zur Vertonung von Gialli mit an Bord holt. Neben Musik für Film und Bühne – die Internet Movie Database listet über 500(!) Titel – komponiert Morricone auch Kammer- und Kirchenmusik; darunter ein gutes Dutzend Klavierkonzerte, Kantaten und Sonaten, ein Trompetenkonzert, eine Messe für Papst Franziskus, eine Oper über die Sirene von Neapel, ein Requiem für die Kinder-Opfer der Mafia und eines für die Opfer des 11. September. 2007 erhält Morricone (endlich!) den Oscar für sein Lebenswerk, nachdem die Academy, bekanntlich immer für eine Fehlentscheidung gut, mehrere Gelegenheiten hatte verstreichen lassen, den Komponisten zu würdigen. Einen weiteren Oscar für die Beste Filmmusik erhält er 2016 für seine Arbeit an Quentin Tarantinos 70mm-Kammerspiel-Western The Hateful Eight: ein sparsam nur, dafür mit umso grösserer Wirkung eingesetzter, wunderbar dräuender, sinfonischer Score. In seinen Siebzigern – wenn andere sich zur Ruhe setzen – beginnt Morricone damit, weltweit in Konzerten seine filmmusikalischen Kompositionen zur Aufführung zu bringen. Er dirigiert vor ausverkauften Sälen und begeistertem Publikum. Er befreit die Töne von den Bildern und solcherart die Ohren von den Augen. Er öffnet beide noch einmal neu. Ennio Morricone stirbt am 6. Juli 2020 in Rom an den Folgen eines Sturzes. Im Jahr darauf feiert Giuseppe Tornatores enzyklopädischer Vermächtnisfilm Ennio Premiere; eine angemessenere und liebevollere Würdigung des empfindsamen Maestros als dieses rund um ein langes (letztes) Interview gebaute Porträt ist kaum vorstellbar.

Seine berufliche Laufbahn beginnt Morricone in den späten Fünfzigerjahren mit seiner Tätigkeit als Arrangeur für die staatliche Rundfunkanstalt RAI sowie für italienische Popstars und Cantautori. Von Beginn an sorgen seine einfallsreichen Instrumentierungen und rhythmischen Irritationen für Aufmerksamkeit. 1961 beauftragt ihn Luciano Salce mit seinem ersten Score (für die Komödie Il federale). Dann dauert es ein paar Jahre, bis es zu jener für die Filmgeschichte so bedeutsamen (Wieder-)Begegnung kommt: zwischen Ennio Morricone und Sergio Leone, die bereits gemeinsam dieselbe Grundschule besucht hatten. Für Leone schreibt Morricone die Musik zu Per un pugno di dollari, und Per un pugno di dollari schreibt 1964 Westerngeschichte. Es ist die erste von zahlreichen Kollaborationen zwischen Leone und Morricone, die von da an eine lebenslange Freundschaft verbindet; und es ist der erste von zahlreichen Italowestern, die Morricone mit seinem unvergleichlichen Stil musikalisch gestalten wird. Übrigens hat Morricone den Begriff «Spaghetti-Western » gehasst; er wird ja auch den sehr brutalen und ziemlich zynischen Filmen nicht gerecht, die aus europäischer Perspektive auf das uramerikanische Genre schauen, das seinerzeit unter dem eigenen verdrängend-verklärenden Mythos eh schon fast zusammenbrach.

Und nicht nur in diesem Genre stellt Morricones Musik dem wiederkehrenden Verdrängten den nötigen Raum bereit – denn immer wieder fragt man sich beim Hörensehen seines Werkes, wie derart komplexe, erhabene, anrührende Musik zu derart schrecklichem Geschehen erklingen kann – und in dieser eben nur vermeintlich augenscheinlichen Diskrepanz liegt auch die Möglichkeit der Erkenntnis der schaurig-schönen Ambivalenz der menschlichen Existenz. Morricones innovative filmmusikalische Entwürfe bewegen sich mitunter im Grenzbereich zum Sounddesign – ist das noch der Geräuschemacher oder schon der Komponist? –: Hören Sie sich unter diesem Aspekt einmal die ersten 20 Minuten von C’era una volta il West an. Musique concrète, zusammengefügt aus Quietschen, Knarren, Tschirpen, Summen, Säuseln, Tröpfeln, Knattern – bis schliesslich, traurig die Töne in die Länge ziehend, die Mundharmonika einsetzt, die im Weiteren das Lied vom Tod spielen wird. Und dann das Gitarrenriff einherdonnert, das diesen besiegelt. Hören Sie, einmal mehr, das Kojotengeheul, das im Verein mit Peitschenschlägen und strategisch platzierten Schüssen dem Auftakt von Il buono, il brutto, il cattivo (1966) den fulminanten Charakter verleiht. Hören Sie die Panflöte in Once Upon a Time in America (1984) den tragischen Tod des kleinen Dominic beweinen. Hören Sie die gesungenen Credits zu Beginn von Uccelacci e Uccelini (Pier Paolo Pasolini, 1966) mit ihrer mittelalterlich festiven Chorbegleitung. Hören Sie, wie während einer Verfolgungsjagd in L’uccello dalle piume di cristallo (Dario Argento, 1970) die Giallo-typisch lose gestrickte Handlung in einem Freejazz-Impro-Set förmlich pulverisiert wird. Hören Sie das atonale Aneinanderreiben der Instrumente, das in I pugni in tasca (Marco Bellocchio, 1965) an immer unvermuteten Stellen, sporadisch akzentuierend den psychischen Zusammenbruch und gesellschaftlichen Untergang einer grossbürgerlichen Familie illustriert. Hören Sie, wie Saloonklaviere und Instrumente für Kinder Klänge für die Ewigkeit erzeugen. Kirchenglocken und Bontempi- Orgeln, Spinett und Flöten aus Ton, das unnachgiebige Verticken der Zeit und das sanfte Klimpern von Spieluhren, Maultrommeln, Banjos und Mandolinen und Dosengeklapper und Streicherbrandung. Immer wieder Frauenstimmen, deren lyrischer Gesang direkt in den Himmel aufsteigt. Pauken. Und Trompeten. Hören Sie, und lassen Sie Ihre Ohren staunen.

 


Alexandra Seitz ist freie Autorin und Filmkritikerin. Sie lebt und arbeitet in Berlin und Wien. 

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