SANDRA HÜLLER
Anatomie des Subtilen
Minimalismus und Spielwut, millimetergenaue Mimik gepaart mit Hingabe und Intensität. Für viele die beste Schauspielerin ihrer Generation. Schauspielerin Sandra Hüller spielte an zahlreichen Theatern Deutschlands und der Schweiz. Drei Jahre war sie ein fester Bestandteil des Ensembles des Theater Basel. Und mischte danach das zeitgenössische Kino auf. Für ihre erste Langfilm-Rolle als Freiheitssuchende im Exorzismus-Drama Requiem erhielt sie gleich den Silbernen Bären der Berlinale. Im tieftragisch-urkomischen Toni Erdmann gelang ihr der internationale Durchbruch. Jüngst brilliert sie in der wilden Neuinterpretation Sisi & Ich und im Gerichtsdrama Anatomie d’une chute. In Hüllers Spiel verbinden sich Zurückhaltung, Leidenschaft und Grenzüberschreitungen, Witz und Charme. Ein Feuerwerk des Subtilen.
mehrVermessung des Ungewissen
Der Kampf mit der Klamotte ist ein Moment für die Ewigkeit. Ines Conradi hat ihre Kolleg: innen zum Geburtstagsempfang geladen und sich in ein schickes Etuikleid gezwängt, das, wie es diese Kleider nunmal an sich haben, jede Bewegung nahezu verunmöglicht. Nun will sie sich doch lieber wieder umziehen, in etwas Bequemeres wechseln, nur ist sie lang noch nicht vollständig aus dem Kleid geschält, da klingelt es schon an der Tür. Der erste Gast! Ines hadert noch ein bisschen hin und her, Bewegungen laufen ins Leere, suchen nach Sinn und Strategie – und schliesslich verkörpert sich ein Entschluss: In nichts als Strümpfen öffnet sie die Tür und ruft die Nacktparty aus.
Sandra Hüller spielt Ines Conradi in Toni Erdmann (2016), benannt nach dem Alter Ego ihres Vaters, der wiederum von Peter Simonischek gespielt wird, Gott hab’ ihn selig! Maren Ades Tragikomödie, die vom Altachtundsechziger erzählt, der seine neoliberale Unternehmensberater- Tochter zurück auf den Weg der Menschlichkeit führen will, war 2016 DER Überraschungserfolg bei den Filmfestspielen in Cannes – eine Komödie aus Deutschland?! –, machte Sandra Hüller einem internationalen Publikum bekannt. Das Publikum im deutschsprachigen Raum wusste da schon längst, wen es an ihr hatte.
Geboren 1978 im thüringischen Suhl, also noch in der DDR, spielte sie bereits während der Schulzeit erfolgreich Theater. Folgerichtig ging sie nach dem Abitur schnurstracks nach Berlin an die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Nach Abschluss der Ausbildung 2000 führen sie wechselnde Engagements an die Bühnen in Jena und Leipzig; dem Ensemble des Theaters Basel gehört sie von 2002 bis 2006 an, danach spielt sie unter anderem in München, Berlin, Zürich. Auszeichnungen lassen nicht lange auf sich warten: 2003 kürt sie die Zeitschrift «Theater Heute» zur Nachwuchsschauspielerin des Jahres (2013 zur Schauspielerin des Jahres). Für ihren Hamlet, den sie am Schauspielhaus Bochum unter der Regie von Johan Simons auf die karge Bühne stellt, erhält sie 2019 den prestigeträchtigen Gertrud Eysoldt Ring. Dazwischen rieseln die Preise für ihre Arbeit in Filmen, die sie 2009 mit Hans-Christian Schmids Requiem (2006) beginnt.
Darin greift Schmid den Fall der Anneliese Michel auf, die in den 1970er-Jahren infolge von Exorzismen an Auszehrung starb. Hüller spielt Michaela Klingler, die aus tiefreligiösem Elternhaus vom Dorf zum Studieren nach Tübingen zieht. Aus den resultierenden Konflikten zwischen sozialem Umfeld, neuronaler Disposition und zunehmendem emotionalen Stress entsteht ein tragischer Unfall. Michaelas am Ende psychotischer Zustand wird, mit verheerenden Folgen, als Besessenheit (fehl)interpretiert, und eine junge Frau zerreisst sich an ihren Träumen. In ihrem Spiel löst Hüller die Grenze zwischen Welt und Wahrnehmung auf. Sie zeigt, wie das Äussere, Konkrete die innere Wirklichkeit bedingt. Sie mutet dabei völlig natürlich an, und doch liegt ihrer Darstellung ein profund analytischer Ansatz zugrunde. Die Figur ist durchdacht, bevor sie auf die Bühne respektive vor die Kamera gestellt wird. Es ist eine überragende Leistung, die ihr bei der Berlinale den Silbernen Bären einbringt.
Nun hatten also auch die weniger Bühnen- Affinen «die junge Theaterschauspielerin» auf dem Schirm, mussten auf ihren nächsten Film allerdings bis zur nächsten Berlinale warten. Um sodann etwas erstaunt festzustellen, dass die Kino-Newcomerin offenbar keine Karriere im Mainstream anstrebte. Und dem Theater schwor sie erst recht nicht ab. Den Figuren tut das gut, insofern die Schauspielerin auf der Bühne ihre Figur als Ganzes und auf Dauer präsent halten muss, während das filmische Produktionsverfahren den Charakter in Szenen und Einstellungen zerschnipselt. Diesem notgedrungen Fragmentierenden setzt Hüller das im Hintergrund immer wirkende Ganzheitliche ihrer Konzeption entgegen; sodass die Figuren uns unheimlich und authentisch zugleich erscheinen: authentisch, weil wir uns vorstellen können, dass sie ein Leben ohne uns führen, unheimlich, weil dieses Leben ein Geheimnis bleibt.
Und aus diesem Geheimnis heraus treten sie nun vor uns hin. Wie Rita in Maria Speths Madonnen (2007), die sich nicht berühren lässt. Nicht von Verpflichtungen und nicht von Beziehungen. Und die doch zu versuchen scheint, ihren zahlreichen Kindern von unterschiedlichen Vätern eine Mutter zu sein. Hüller spielt diese Rita präzise als eine spröde und zugleich verletzliche Frau. Als jemanden, der sich nicht preisgeben will und in dem doch auch eine diffuse Sehnsucht nach Nähe und Wärme spürbar wird. Und Speth bleibt mit ihrer Inszenierung auf Distanz und lässt die Brüche und Widersprüche wirken. Madonnen – die Hure, das andere Ende des Spektrums klischierter Frauenbilder, ist im Filmtitel mitgedacht – ist keine psychologische Studie, sondern eine Auseinandersetzung mit Rollenerwartungen.
Deren Untersuchung prägt auch Brownian Movement (2010) von Nanouk Leopold, einem Meisterstück Hüller’schen mimischen Minimalismus. Die Ärztin Charlotte schläft mit verschiedenen Männern; als Ehemann Max von diesen Experimenten erfährt, verliert er das Vertrauen; zumal seine Frau ihm mit Worten nicht erklären kann, was sie antreibt. Das Schweigen und die Leerstelle, sagt Leopold, sind nötig, um der Unterströmung der Erzählung, die eine des Gefühls ist und der eigentliche Kern, den Raum zu geben, in dem sie sich entfalten und ausdrücken kann. Das Gefühl hat keine Sprache, verfügt nicht über Worte, artikuliert sich in den Nuancen und dem Dazwischen. Stundenlang kann man Hüller dabei zusehen, wie sie millimetergenau den Ausdruck ihres Gesichts verändert, wie sie einen Dialogsatz nach dem anderen überflüssig macht, wie sie Charlotte mit Blicken kommunizieren lässt, deren Bedeutung Max nicht begreift. Was bleibt, ist eine mit der Realität der letztlichen Fremdheit des anderen konfrontierte Beziehung. Was bleibt, ist die Kluft.
Eine Kluft, die sich gleichermassen auftut in Jan Schomburgs Über uns das All (2011), in dem Martha sich von einem Tag auf den anderen mit dem geheimen Leben ihres Mannes konfrontiert sieht. Und die sich auch auftut in Visar Morinas Exil (2020), in dem es zunehmende Paranoia ist, die Mann und Frau einander entfernt. Eine Kluft, die sich aber auch schliessen kann, wie in Thomas Stubers In den Gängen (2018), in denen der schweigsame Grossmarktmitarbeiter und seine verheiratete Kollegin zarte Freundschaftsbande knüpfen – und mit Franz Rogowski und Sandra Hüller zwei Virtuosen des Subtilen ein Feuerwerk zünden.
So wie die Schauspiel-Gigantinnen, die in Frauke Finsterwalders Sisi & Ich (2023) aufeinander treffen: Susanne Wolff als titelgebende Kaiserin von Österreich, Sandra Hüller als die in sie verliebte Hofdame sowie, in Nebenrollen, Johanna Wokalek, Angela Winkler und Sibylle Canonica. Das ist ein Aufgebot, das Tiefe wie Dimension verspricht und hält. Es entsteht im Zusammenspiel dieser Grandes Dames ein Raum irrwitziger Reflexionen – der Figuren und ihrer Selbstbilder, der Wahrnehmung durch die anderen, der Spiegelungen und Verzerrungen, des Vergnügens und des Staunens.
Das soeben vergangene Jahr 2023 erweist sich als das der Sandra Hüller. Bei den Filmfestspielen in Cannes beeindruckt sie sowohl in Anatomie d’une Chute von Justine Triet – prämiert mit der Goldenen Palme – als auch in The Zone of Interest von Jonathan Glazer – prämiert mit dem Grand Prix. Seither fährt sie reihenweise Nominierungen und Auszeichnungen ein, darunter den Europäischen Filmpreis für ihre Darstellung der Schriftstellerin Sandra Voyter, die möglicherweise ihren Mann ermordet hat – eine Rolle, die ihr Triet auf den Leib geschrieben hat.
Das Vermögen Hüllers, zugleich mit dem emotionalen Ausdruck einen zugehörigen Resonanzraum zu errichten, in dem Motiv und Absicht der Emotion reflektiert und hinterfragt werden können, erreicht hier ein ungekanntes Ausmass. Wie so viele Hüller’sche Figuren ist auch diese eine Heldin im Ungewissen, eine Frau, die sich nicht zum Opfer machen lässt, aber damit nicht auch automatisch zur Täterin wird. Der Resonanzraum, den Hüller (mit)spielt, adressiert die Erwartungshaltungen und Wahrnehmungsmuster ihres Publikums, in ihm werden nicht zuletzt Klischeevorstellungen von Weiblichkeit hinterfragt. Durch diesen Denk- Raum hindurch gegangen, tritt auf der anderen Seite ein authentisches Porträt einer komplexen Frau zutage, ebenso rar wie bereichernd. Sandra Hüllers Sternstunden-Schauspielerei zu sehen, ist eben immer auch ein intellektuelles Vergnügen.
Alexandra Seitz ist freie Autorin und Filmkritikerin. Sie lebt und arbeitet in Berlin und Wien.
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