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ARCHIV | Filmreihe

 
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NACER KHEMIR

1001 NACHT


Mitten hinein in die Welt der Geister, Gelehrten und Derwische. Auf Abenteuerreise und spirituelle Sinnsuche in die Sahara. Der tunesische Geschichtenerzähler Nacer Khemir beschwört den Zauber von 1001 Nacht als betörende filmische Zeitreisen, die über den Horizont hinaus in die Zukunft blicken, inspiriert von der oralen Tradition Tunesiens und den grossen andalusischarabischen Märchen. Im Rahmen von Culturescapes Sahara 2023 zeigen wir nicht nur seine jüngst restaurierte Wüsten-Trilogie (Die Wanderer der Wüste, Das verlorene Halsband der Taube, Bab’aziz), sondern auch den neuesten Spielfilm Whispering Sands, der in der Schweiz noch nicht zu sehen war. Für Die Tunisreise begeben sich Bruno Moll und Nacer Khemir auf die Spuren von Paul Klee, der wiederum im Jahr 1914 eine sein späteres Schaffen prägende Reise nach Tunesien unternahm. Am 11. Oktober ist Nacer Khemir dann im Stadtkino zu Gast und gibt persönliche Einblicke in sein Arbeiten, die Bedeutung des Sufismus für sein Schaffen und seine Vision eines versöhnlichen Islam. Erzählkunst in magischen Bildern.

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POET DER WÜSTE UND DER FARBEN NACER KHEMIR

 

Für seine Wüstentrilogie erhielt der tunesische Regisseur Nacer Khemir verschiedene Auszeichnungen, sowohl an arabisch-afrikanischen Festivals (Ougadougou und Karthago) wie auch in Locarno, Valencia und Nantes. Zwischen 1984 und 2006 entstanden, entfalten diese drei Filme eine traumhafte Ästhetik der Wüste als existenziellen Lebensraum. Seine ästhetisch und akkustisch betörenden Zeitreisen in all seinen Filmen reichen vom islamischen Emirat von Córdoba bis in die Gegenwart. Sprachlich beziehen sie sich auf die Poesie der arabischen Hochkultur, aber auch auf die orale Kultur von Khemirs Kindheit.


Die Sprache als Haus

Seit seinem Filmstudium, das er 1966 aufnimmt, lebt und arbeitet Nacer Khemir zumeist in Paris. Hier findet er nach eigenen Aussagen besseren Zugang zum Reichtum der arabischen Kulturgeschichte, dem Ausgangspunkt seiner künstlerischen Arbeit, als in Tunesien, dem Hauptschauplatz seiner Filme. «Wir wohnen nicht in einem Land, sondern in einer Sprache», definiert Khemir den transnationalen Ort der arabischen Kultur und ist dennoch der Frankophonie zugeneigt. Auf Französisch publiziert er ab 1975 zahlreiche Texte, und in Paris tritt er 1982 erstmals auch als Erzähler von 1001 Nacht auf. Im renommierten Théâtre de Chaillot erzählt er während eines Monats jeden Abend in einer berauschenden Performance eine Geschichte aus dem zentralen Werk der arabischen Literatur. Als zeitgenössischer Erzähler sieht er sich in der Tradition der grossen orientalischen Erzählkunst, aber auch der oralen tunesischen seiner Kindheit, als ihm seine Mutter allabendlich Geschichten aus 1001 Nacht erzählte. Khemir beruft sich auf die literarische Tradition des goldenen Zeitalters der arabischen Hochkultur, das bis zur frühen Neuzeit andauerte; eine Epoche, da Andalusien noch als kulturelles und wirtschaftliches Zentrum des Mittelmeerraums und der islamischen Welt galt. Visuell bezieht sich Khemir aber auch auf die künstlerische Moderne von Paul Klee, der 1914 in den Maghreb reiste und dessen Kunst vom Licht und von den Farben der Wüste und der Oasen durchdrungen war.

Die Wüste als Figur
Im ersten Teil seiner Wüstentrilogie, Die Wanderer der Wüste (Les Baliseurs du désert) (1984), spielt der Regisseur einen Volksschullehrer, der in eine entlegene Oase geschickt wird, wo die von einem Scheich regierte Dorfgemeinschaft in einer archaischen Welt voller Schönheit und Poesie lebt. Dort wird der junge Lehrer zwar herzlich empfangen, doch zum Einsatz kommt er nicht, denn seine Rolle ist in dieser vormodernen Welt nicht vorgesehen. Zauberhafte Farben und Kostüme, lichtdurchflutete Räume wechseln mit Aufnahmen von Sandstürmen, wo eine rätselhafte Gruppe von Wüstenwanderern, Nomaden oder Migranten, unscharf im Hintergrund vorbeizieht und ein alter Mann vergeblich versucht, sich vor den einst mächtigen, aber zerfallenen Stadtmauern – der Film wurde in den Ruinen einer Wüstenstadt realisiert – sein Grab zu schaufeln. Der Wind verhindert dieses Unterfangen und prägt in immer wieder neuen akustischen Variationen die subtile Tonspur zusammen mit den Klängen des monotonen Saiteninstruments und der Stimme eines Sufi- Sängers. Im ersten Teil der Wüstentrilogie geht es in erster Linie um Kontemplation und weniger um Bedeutung, es sei denn um die zentrale Rolle, die das Haptische in Khemirs Filmen spielt. Berührungen, Stimmen, Blicke: Hier wird eine in der arabischen Mythologie verankerte Schaulust zelebriert mit dem Kino als idealem Echo- und Schauraum. Das verlorene Halsband der Taube (1991) bezieht sich auf einen Text des andalusischen Gelehrten Ibn Hazm (994–1064) und spiegelt die in der muslimischen Gesellschaft des maurischen Spanien kultivierte höfische Liebe. Er handelt von nichts weniger als der Liebe und den Liebenden, von Glück, Trennung und Verlust. In diesem sehr aufwendigen, opulenten Film wird der junge Protagonist Hassan vom indischen Schauspieler Navin Chowdhry gespielt, und seine Gegenspielerin, die Prinzessin von Samarkand, erscheint in mongolischem Gewand. Erzählt wird anhand filmischer Tableaus, bruchstückartig.

Utopie, Verlust und Adoleszenz
Wie kommt Khemir zu diesem Text über das Beweinen einer unmöglichen Liebe? Er habe Das Halsband der Taube von Ibn Hazm als Zwölfjähriger im Gymnasium gelesen und sei damit erstmals mit dem Thema der Liebe konfrontiert worden. Die darin thematisierte Tragik einer unlebbaren Liebe habe ihn in seiner Adoleszenz am stärksten bewegt, erzählt Khemir in einem ausführlichen Gespräch, das Trigon-Gründer Bruno Jaeggi und Walter Ruggle mit ihm 1991 in Paris geführt haben. Das politische Geschehen in der Folge des Golfkriegs (1991) beeinträchtigt die Geldsuche für den dritten Teil seiner Wüstentrilogie nachhaltig, sie dauert zwölf Jahre. Immer wieder hätten ihm potenzielle Geldgeber nahegelegt, doch einen Film über den Terrorismus statt diesen über den pazifistisch motivierten Sufismus und den mystischen Islam zu realisieren. Doch schliesslich kommt die Finanzierung dank acht europäischen und iranischen Geldgebern zusammen. Bab’Aziz (2005) beginnt mit dem Credo «Es gibt so viele verschiedene Wege zu Gott, wie es Menschen gibt». Aus heutiger Sicht erstaunlich, dass grosse Teile dieses gigantischen Wüstenepos im Iran gedreht werden konnten, ist es doch auch eine sufistisch verpackte Botschaft zur religiösen Toleranz. Der blinde Sufi Bab’Aziz (Parviz Shanhinkhou) wandert, begleitet von seiner Enkelin (Myriam Hamid), durch die archaischen Weiten der iranischen Wüste zu einem Derwisch-Treffen, das nur alle dreissig Jahre stattfindet. Es gibt keinen geografisch vereinbarten Treffpunkt, denn «nur das Herz kann den richtigen Weg weisen». Der blinde Greis lockt das Mädchen mit immer wieder neuen Geschichten, Legenden und Märchen aus 1001 Nacht über die endlos sich aneinanderreihenden Dünenlandschaften.

Dialog statt Clash of Cultures
Sich selbst inszeniert Khemir wieder in Looking for Muhyiddin, der 2012 – ein Jahr nach dem Arabischen Frühling – im Rahmen des arabischafrikanischen Filmfestivals von Karthago in Tunis uraufgeführt wurde, Als reisender Sohn – beauftragt von seinem verstorbenen Vater – holt er hier Erkundungen über den sufistischen Mystiker Muhiddin Ibn Arabi (1165-1240), einen frühen Vertreter der religiösen Toleranz, ein. In Oxford und in New York trifft er bedeutende Islamforscher:innen, bevor er solche in Tunis, im Jemen und in Damaskus aufsucht. Kaum Nostalgie, sondern Schönheit, Witz und Versöhnung sind hier am Werk und zeigen, dass sein Anliegen nicht nur in der Erinnerung an grossarabische Geschichte liegt, sondern vielmehr darin, Dialog statt Clash of Cultures zu schaffen. Und trotzdem haben Nacer Khemirs Filme im arabischen Kino einen schweren Stand und werden auch in seiner Heimat Tunesien kaum gezeigt. Von der arabischen Filmkritik muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, namentlich seine im Westen vielgepriesene Wüstentrilogie leiste einer orientalistischen Sichtweise Vorschub, beleuchte die arabische Kultur aus einer kolonialen Perspektive. Dennoch: Seine in der Zeit des Golfkriegs und von 9/11 realisierten Filme sind eine mit allen Mitteln der Ästhetik geführte Kampfansage an die im Westen medial verbreitete und zunehmend um sich greifende Islamophobie, aber ebenso Kampfansage an den Islamismus, den «angekündigten Tod des Islams und seiner Zivilisation», so Khemir.

Catherine Silberschmidt hat Filmwissenschaft und Ethnologie studiert. Sie lebt und arbeitet als Filmkritikerin in Zürich. Ihre Schwerpunkte sind Filmgeschichte und das afrikanische Filmschaffen. Als Kuratorin hat sie verschiedene Retrospektiven, u.a. mit den Filmen von Vera Chytilova, Marguerite Duras und Kira Muratova, konzipiert. Sie ist zudem Programmdelegierte des Internationalen Arabischen Filmfestivals in Zürich.

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