MIZOGUCHI KENJI
Von Blüten im Wind
Eine Nacht unter dem Regenmond, eine vom Wind hinfort getragene Blüte: Tragisch und von berauschender Schönheit sind die Werke des japanischen Regisseurs Mizoguchi Kenji. In ihnen verbinden sich Perfektionismus und ein zärtliches Gefühl für die Ungerechtigkeit der Welt. Bis ins letzte Detail durchkomponierte Bilder treffen auf bewegende Geschichten. Geschichten von Frauen im Kampf um Freiheit in patriarchalen Gesellschaften, von Machtverhältnissen und von tiefen Sehnsüchten. Ein viel zu wenig bekannter Gigant des Weltkinos, von dem sich Grössen wie Martin Scorsese bis Chantal Akerman beeinflusst zeigen. Ohne Mizoguchi ist ein modernes Kino kaum denkbar – wir präsentieren seine Filme auf frisch restaurierten Kopien.
mehrVERGEBLICHE SCHÖNHEIT
Die Filme Kenji Mizoguchis beginnen meist in furchteinflössender Stille. Auf einer Waldlichtung in Ein Leben ohne Freiheit – Sansho, der Landvogt (1954), in den von der Trauer des verwitweten Kaisers gedämpften Mauern des Palastes in Princess Yang Kwei Fe (1955) oder bei einer wie schwebend gefilmten Prozession unter Kirschbäumen in Utamaro and his Five Women (1946). Aus dieser Stille bewegen sie sich in Bordelle und Wohnhäuser, Werkstätten und Gärten sowie in Konflikte zwischen gesellschaftlichen Ordnungen und den Menschen, die unter diesen leiden. Es wird gesprochen und gekämpft, gefleht und gehofft. Am Ende aber bleibt wieder eine Stille, jene, die der Tod auf die Lippen eines Kindes, einer verzweifelten Mutter oder eines mit seinem Gewissen kämpfenden Ehemanns legt.
Trotz ihrer Tragik sieht man diese Filme wie berauscht, weil sie beweisen, dass es Schönheit gibt. Auch wenn sie nur kurz währen mag, wie die bald schon hinfort getragene Blüte einer Blume im Wind. Diese Schönheit ist eine Sache der verrichteten Arbeit. Das gilt nicht nur für seine Figuren, sondern auch für Mizoguchi selbst. Ab 1923 arbeitete dieser Gigant des Weltkinos als Regisseur – Orson Welles, Jean-Luc Godard oder Chantal Akerman waren von ihm beeinflusst. Ein modernes Kino ohne Mizoguchi ist unvorstellbar. Die meisten seiner Stummfilme gingen verloren. Gemeinhin gilt seine späte Schaffensphase Mitte der 1950er-Jahre als unerreicht. In ihr treffen sein über Jahre erarbeiteter Perfektionismus und sein zärtliches Gefühl für die Ungerechtigkeit der Welt auf die florierende, in den Westen expandierende japanische Filmindustrie. Mizoguchi dreht in dieser Phase zu gleichen Anteilen zeitgenössische wie historische Filme. Er unterscheidet nicht zwischen den Unterdrückten von damals und heute. Sie alle erzählen von unerträglichen Zuständen, die das menschliche Leben bestimmen.
Mizoguchis Filme widmen sich immer wieder zwei Figurentypen, die miteinander in schwierige Beziehungen treten. Auf der einen Seite an den Rand gedrängte Geishas und Kurtisanen, Schwestern und Ehefrauen, die sich im patriarchalen Gesellschaftssystem sowohl des feudalen als auch des zeitgenössischen Japans Mizoguchis für ihre Männer aufopfern. Sie setzen ihre eigene Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel, damit die Männer erreichen können, was sie erstreben. Auf der anderen Seite die Männer, die oft als Künstler oder Politiker auftreten. Sie sind eitel, zweifeln und bemerken zu spät, dass sie ein moralisches Gewissen haben. Die Welt ist ein Geschäft bei Mizoguchi, ungerecht und unerbittlich.
Die Kamerapositionen verdeutlichen wiederholt, dass man eigentlich nicht sehen sollte, was man sieht. Mizoguchis Filme machen die Schwelle sichtbar zwischen dem Privaten und Öffentlichen. Jene Schwelle also, an der sich das japanische Kino seit jeher abgearbeitet hat: der Konflikt zwischen Form und Wirklichkeit. Die Gepflogenheiten und die wahren Gefühle. Die Etikette und das von ihr bedeckte Ungemach. Hinter jedem Lächeln verbergen sich Schmerzen in diesem Kino. Hinter jeder Liebesbekundung, eine grosse Einsamkeit. Mizoguchi hat das nicht einfach erzählt. Er hat es mit den Mitteln des Kinos gefilmt. So folgt man den Handlungen und Gesprächen häufig im Halbdunkel oder hinter Vorhängen, Pflanzen und Sho – ji, den japanischen Schiebetüren, die bei entsprechender Beleuchtung Schattengeister durch die Gänge wandeln lassen. Oder er lässt ein Boot im Nebel des Biwa-Sees verschwinden wie in einer unvergesslichen Szene in Erzählungen unter dem Regenmond (1953). Die Kamera blickt mal aus dem Strassengraben, mal von der Decke auf die Figuren. Sie steht dort, wo sie nicht stört, wo sie niemand bemerken würde. Wo andere auf maximalen dramatischen Effekt durch eine Nahaufnahme zielen, berührt Mizoguchi gerade durch seine Zurückhaltung.
Nie hat etwa der Tod einer Figur mehr berührt als im Bild eines über den Leichnam gebeugten Körpers in The Story of the Last Chrysanthemum (1939), dem herausragenden Vorkriegsfilm Mizoguchis. Darin zeigt er die aufopferungsvolle Liebe einer Frau zu einem jungen Kabuki-Schauspieler. Er zeigt eine Welt, die nach bestimmten, männlichen Idealen gebaut ist, und wie Menschen an diesen Idealen zerbrechen. Er zeigt das, aber kommentiert es nicht. Darin liegt ein beinahe verloren gegangenes Vertrauen in die Kraft des Kinos. Eine Ernsthaftigkeit, die nicht dem eigenen künstlerischen Ausdruck, sondern allem, was im Bild zu sehen ist, gilt.
Man achte nur auf die sich im Hintergrund bewegenden Statisten in allen Filmen Mizoguchis. Es gibt keine falsche Bewegung, keinen unpassenden Blick. Das gilt gleichermassen für das Szenenbild. Der Filmemacher akzeptierte keine Attrappen, echte antike Vasen und Kostüme mussten für seine feudalen Dramen ans Set gebracht werden. Es ist bekannt, dass er kompromisslos war. Angeblich unterhielt er einen Mann, der das Set mit einer Pistole bewachte, wann immer er selbst kurz austreten musste. Egal ob es sich dabei um jene Legendenbildung handelt, auf die sich Mizoguchi so gut verstand, oder um die Wahrheit: Er überliess wirklich nichts dem Zufall.
Um die Schwelle zwischen dem Sichtbaren und Verborgenen einzufangen, filmt er oft jene Figuren, die andere beobachten und belauschen. Die letzte Einstellung in Mizoguchis OEuvre gilt nicht umsonst einer Frau in Die Strasse der Schande (1956), die zugleich hinter einer Ecke beobachtet als auch aus dem Bild verschwinden will. Es ist ein perfektes letztes Bild für ein Werk, das die Grenzen auslotet zwischen menschlichem Leid und Schönheit. Manche haben Mizoguchi als Humanisten bezeichnet, manche als Sadisten. Er ist beides zugleich. Seine Filme fühlen für die Menschen, aber er liebt sie erst, wenn sie vor der Kamera zusammenbrechen. Obsessiv sucht er nach der Einstellung, die den Menschen in seinem zerbrechlichen Ausgeliefertsein offenbart. Zig auf dem Boden zusammengesunkene Körper kann man in seinen Filmen sehen. Ihre Körper füllen den Bildkader in einer perfekten Diagonale. Ästhetisierend ist das nicht, denn kaum einer hat besser gezeigt, dass Schönheit vergänglich ist.
Mizoguchi sucht die eine perfekte Einstellung für jede Szene. Er weiss, dass eine einzelne Geste, ein kurzer eingefangener Blick alles über das Leiden oder das Glück sagen kann. Noch Wochen nachdem man The Woman of Rumour (1954) gesehen hat, denkt man an die verzweifelten Tränen der Mutter, die sieht, wie ihr Liebhaber sich in ihre eigene Tochter verliebt. In diesem Blick erzählt sich eine Vergeblichkeit, die jene der Frau weit übersteigt. Sie hängt am Älterwerden, am Bedauern über die verpassten Leben, am männlichen Bild von Schönheit und immer wieder auch an den sichtbaren oder unsichtbaren Gefängnissen, in denen insbesondere Frauen in Japan gelebt haben.
Seine ab 1936 durchgehend mit Yoshikata Yoda erarbeiteten Drehbücher verbinden die melodramatischen Elemente des «Shinpa» (Herzschlag oder Sorgen), einer Theaterform, die tragische Stoffe des modernen Japans repräsentiert, mit einem strengen Naturalismus in der Darstellung. Anders formuliert: Bei Mizoguchi geschehen die heftigsten Ereignisse im Fluss der Dinge. Je grösser die emotionalen Schmerzen in seinen Filmen, desto nüchterner filmt er sie.
Das alles erklärt noch nicht, warum die Kamerafahrten bei Mizoguchi zu den schönsten der Filmgeschichte zählen. Vielleicht liegt es daran, dass sie eher schweben als fahren und so, für Sekunden, die Schwerelosigkeit von an die Erde gefesselten Körpern ermöglichen. Oder es liegt daran, dass sie weniger den Bewegungen der Figuren zu folgen scheinen als jenen der Herzen der Zuschauer:innen.
Patrick Holzapfel arbeitet literarisch, kuratorisch und journalistisch. Er ist Herausgeber des Online- und Printmagazins Jugend ohne Film. Im zweiten Quartal 2024 erscheint sein Debütroman, ausserdem ist er Gewinner des Open-Mike-Wettbewerbs für junge Literatur 2022. 2016 Siegfried-Kracauer-Stipendiat des Verbands der deutschen Filmkritik, 2022 nominiert für den Siegfried- Kracauer-Preis für die Beste Filmkritik; 2022 Startstipendiat Literatur des Bundeskanzleramts Österreich.
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