ANGELA SCHANELEC
Augenblicke
Hinschauen, Einfühlen, Wiederkennen – im Nebensächlichen das Wesentliche finden. Angela Schanelecs Filme fangen ein, was kaum fassbar ist: Augenblicke, die vorübergehen, ehe man sie begreifen kann. Flüchtige Momente werden mit leuchtenden Bildern, die erst im Kino ihre volle Wirkung entfalten, und taktvoll eingesetzter Musik zur essenziellen Erfahrung. Im scheinbar beiläufigen Alltag, mal im sommerlichen Berlin (Ich bin den Sommer über in Berlin geblieben, Mein langsames Leben), mal im winterlichen Marseille, findet die deutsche Filmemacherin das Leben in seiner ganzen Tiefe. Erzählt von Sehnsüchten, Wünschen und Einsamkeit, von Verlust und Tod, aber auch von Heilung und Schönheit. Teil der Berliner Schule oder Nouvelle Vague Allemande? Viel eher ein neues, intimes Deutsches Kino. Wir widmen Angela Schanelec eine Hommage und zeigen fünf ihrer Werke, darunter ihren jüngst an der Berlinale ausgezeichneten Film Music als Schweizer Premiere. Und nähern uns über einen Einführungs- und einen Gesprächsabend mit der Regisseurin ihrem Schaffen an. Wer einen Schanelec-Film gesehen hat, sieht die Welt mit neuer Offenheit.
mehrDIE KOMPLEXITÄT DER WELT. DAS KINO VON ANGELA SCHANELEC
Mit grosser Selbstverständlichkeit erklären Filmschaffende immer wieder, dass es ihnen darum gehe, etwas sichtbar zu machen. Dabei ignorieren sie jene flüchtigen Momente, die einem manchmal auf der Leinwand und im Leben begegnen und von denen sich sagen lässt, dass sie mehr Ahnungen als Bildern, mehr dem Unsichtbaren als dem Sichtbaren entsprechen. Sie sind zu kurz, zu gewaltvoll, zu schön, um sie zu verarbeiten, aber sie bergen das Potenzial, alles zu verändern. Die deutsche Filmemacherin Angela Schanelec versteht sich wie kaum eine Zweite auf diese Augenblicke, die vorübergehen, ehe man sie begreifen kann. Sie schaut auf das, was undurchschaubar bleibt.
In Schanelecs Filmen vergeht die Zeit unabhängig von der Handlung. Ihre Bilder leuchten auf wie aus einem reissenden Strom springende Fische. Man sieht diese Bilder, bestimmt und zerbrechlich, und dann verschwinden sie wieder. Zurück bleibt nur eine Art Echo des Gesehenen, das einen lange beschäftigt. In ihrem jüngsten Film, Music (2023), einer freien Adaption von Sophokles’ König Ödipus, gibt es beispielsweise einen solchen Moment, wenn eine Protagonistin von einer Klippe springt. Nicht der Suizid bleibt unfassbar, sondern die Art und Weise, in der er gefilmt wird. Die Kamera zeigt die nackten Füsse auf dem schroffen Gestein, die Muskeln spannen sich an, und kurz vor dem Sprung klettert eine Eidechse ins Bild und auf die Ferse der Frau, die sich ihr Leben nimmt. Eine Eidechse, man fasst es kaum! Iro springt trotzdem und nimmt das Reptil mit in die Tiefe. Das alles dauert nur Sekunden. Niemand schreit, die Meereswellen rauschen weiter, als wäre nichts passiert. Es gibt nichts zu verstehen, nur etwas zu sehen. Keine psychologischen Erklärungen, keine Sentimentalität, keine versteckte Allegorie, nur eine körperlich greifbare Beobachtung jener Sekunden, die das Leben vom Nicht-Leben trennen. In der nächsten Szene wartet bereits der Bestattungswagen. Wie so oft bei Schanelec liegt der Schmerz zwischen den Bildern.
Diese Szene wirkt unheimlich kontrolliert, aber die Eidechse, deren Bewegungen unvorhersehbar sind, erzählt von einer grossen Offenheit gegenüber der Welt. In diesem Spannungsfeld arbeiten alle Filme Schanelecs. Es gibt die gesetzten Worte und Gesten, aber es gibt auch den Wind, der die Bäume flüstern lässt. Schanelecs Filme betrachten alles mit der gleichen Intensität: sich zusammenbrauende Wolken, eine Wachtel, ein Gesicht, eine Hand, einen entspannten Nachmittag am See und einen Suizid. Die Gefühle betten sich ein in eine gleichgültige Welt, und gerade das verleiht ihnen Bedeutung. Ein Schrei bedeutet mehr, wenn er sich durch die Stille zwängt, ein Tanz befreit stärker, wenn man eben noch regungslos in der Ecke sass. Es wäre ein Fehler, die Handlungen der Filme zusammenzufassen, denn sie werden nicht von aufgesetzten Dramaturgien motiviert, sondern von einem konsequenten Begehren, nur das zu zeigen, was wirklich zählt. Schanelec macht Filme, die sich nicht in Worte kleiden lassen. Als Teil einer Generation, die nach dem Mauerfall in Berlin rund um die Deutsche Film- und Fernsehakademie einen fruchtbaren Boden für ästhetische und erzählerische Freiheit vorfand, vertritt Schanelec ein Kino, das keine Angst vor Tiefe hat.
Dabei hat sich ihre filmische Sprache gemeinsam mit einigen Wegbegleitern wie Schauspielerin Maren Eggert oder Kameramann Reinhold Vorschneider im Verlauf von drei Jahrzehnten von studentischen Arbeiten wie Ich bin den Sommer über in Berlin geblieben (1994) bis zu Music stark gewandelt. Am offensichtlichsten ist die Abkehr Schanelecs von langen Einstellungen, die ihre früheren Arbeiten prägen, hin zu einer ellipsenreichen Fragmentierung. Der Vergleich mit dem Spätwerk Robert Bressons drängt sich auf, aber statt dessen nihilistische und religiöse Tendenzen zu bedienen, setzt sich Schanelec mit persönlicheren Fragen auseinander. Wiederholt verhandelt sie etwa den Zustand der Trauer und die Rolle von Kindern in einer Welt, die zusammenzubrechen droht. Unablässig sucht ihr Kino nach Pflastern, die den Schmerz eines Verlustes oder einer Entfremdung lindern können. In Music stellt sich die titelgebende Musik gegen die Grausamkeit einer Tragödie, es wird angesungen gegen das Elend, ein so schlichtes wie berührendes Mittel, um weiterleben zu können.
In den Filmen gibt es sowohl eine Demut gegenüber den tatsächlichen Bedingungen der Orte, egal ob es sich um Grossstädte wie Marseille oder Berlin oder um einen verlassenen Strand in Griechenland handelt, als auch eine stilistische Erhöhung. Erstere äussert sich etwa in der Vorliebe für Direktton in den frühen Filmen oder der Vermeidung verbrauchter Bilder. Postkartenmotive oder Wiedererkennbares sucht man oft vergeblich, stattdessen interessiert sich Schanelec für Orte, an denen das Leben noch keine Bilder gefunden hat, Orte, an denen noch alles passieren kann. Letztere verbinden den Blick der Figuren mit jenem der Filmemacherin. Die Temperatur und Geschwindigkeit eines gelebten Lebens wird von Schanelec in Töne und Bilder übersetzt. So wirkt Marseille (2004) entrückt und fremd, weil die junge Fotografin Sophie so mit der Stadt in Berührung tritt. Die gesprochenen Sätze erklingen wie innere Stimmen. Die Worte sind ein Material wie jeder andere Ton und jedes Bild. Schnitte trennen die Bilder, statt sie zu verbinden. In dieser Trennung passiert jedoch etwas, Räume öffnen sich, die vom Ungesagten bevölkert werden. Es gibt kein Streben nach einem Naturalismus, sondern eine Suche nach der Seele eines Ausdrucks, ein wenig wie beim japanischen Farbholzschnitt im 18. Jahrhundert. Katsushika Hokusai, der Die grosse Welle vor Kanagawa schuf, soll gesagt haben, dass er keine Welle wiedergeben wollte, sondern die Essenz einer Welle.
Keine Essenz ist jemals eindeutig. Eindeutigkeit, Klarheit, Sichtbarkeit gehören ins Fernsehen, schrieb einmal der Schriftsteller und Filmkritiker Raymond Bellour. Das Fernsehen wäre das Medium des Tages, der Aufklärung, der Polizisten. Das Kino gehöre der Nacht, den Gangstern und der Verkomplizierung der Welt. Schanelec hält sich daran, aus ihren Filmen erwacht man und erkennt, dass die Welt vielschichtiger ist, als man dachte. Das liegt auch daran, dass ihre Figuren Geheimnisse behalten dürfen. In Mein langsames Leben (2001) sagt ein Fotograf, dass Fotografien uns helfen würden, zu sehen, was im Versteckten lebe. Schanelecs Kino besteht aus vielen solchen Bildern, deren Besonderheit darin liegt, dass sie kurz bevor sie das Versteckte offenlegen, auf den Zuschauer zurückblicken und dabei helfen zu sehen, was in einem selbst versteckt lebt. Das heisst auch, dass ihre Filme den einfachen Weg zu einer Identifikation mit den Figuren scheuen. Im Stile der klassischen Tragödien suchen sie vielmehr nach jenen Regungen und Nuancen im Individuellen, die vereinfacht gesagt für alle so gelten könnten. Das bedeutet keineswegs, dass diese Filme enigmatisch sind. Ganz im Gegenteil, sind sie von einer grossen Klarheit gekennzeichnet. Es ist nur so, dass man wieder lernen muss, diese Klarheit zu akzeptieren. Leider ist es selten geworden im Kino, das Filme keine Diskurse und Interpretationen einfordern, sondern nur sein wollen. In diesem Sein liegt bereits so viel Kraft, es ist ein grosses Glück, dass diese Filmemacherin es mit uns teilt.
Patrick Holzapfel arbeitet literarisch, kuratorisch und journalistisch. Er ist Herausgeber des Online- und Printmagazins Jugend ohne Film. 2024 erscheint sein Debütroman, ausserdem ist er Gewinner des «Open-Mike- Wettbewerb für junge Literatur»-Finales 2022. 2016 Siegfried-Kracauer-Stipendiat des Verbands der deutschen Filmkritik, 2022 nominiert für den Siegfried- Kracauer-Preis für die Beste Filmkritik; 2022 Startstipendiat Literatur des Bundeskanzleramts Österreich.