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ARCHIV | Filmreihe

 
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Marguerite Duras

Unendliches Begehren


Marguerite Duras’ Filme lesen sich wie ein Buch und sprengen doch alle Grenzen des geschriebenen Wortes. Sie erzählen von Einsamkeit und nie enden wollendem Begehren, von Erinnerung und Vergessen. Die in Südvietnam geborene Schriftstellerin und Filmemacherin fand im Angriff auf den Film neue Wege, ihn zu bereichern. Natalie Granger ist absurd und feministisch mit Jeanne Moreau als häuslicher Mutter und Gérard Depardieu als verwundertem Handelsvertreter. India Song, ihre Vision eines untergehenden Kolonialismus, ein Film voller dekadenter Eleganz und Schönheit. Oder einer ihrer eindrücklichsten Filme, Agatha et les lectures illimitées, in dem der Raum nur noch Horizont ist, eine Ahnung. Sie inspirierte Regisseure wie Jean- Jacques Annaud zur Verfilmung ihres autobiografischen Liebesromans L’amant, Rithy Panh zu Un barrage contre le pacifique über ihre Kindheit in Indochina. Von ihrer Liebesbeziehung mit dem knapp 30 Jahre jüngeren Yann Andréa handelt Claire Simons Vous ne désirez que moi. Ein Sog aus Sprache, Klang und Bildern.

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«Ich mache Filme, um mir die Zeit zu vertreiben. Wenn ich Kraft genug hätte, nichts zu tun, dann würde ich nichts tun» (Marguerite Duras). Es ist einer dieser Tage, an dem das Blau von Himmel und Meer kaum zu unterscheiden ist. Ein Mann mit Reisekoffer und Trenchcoat betritt den verlassenen Kurort an der Nordatlantikküste. Er spaziert ruhig über den Holzsteg im grauen Sand. Nur ein paar Gestalten lungern am Strand. Sie starren in die Weite und sprechen von Gefühlen, die nicht mehr da sind. Sie stehen regungslos und sind besser gekleidet, als es die Situation erfordern würde. Ihre spärlichen Worte erzeugen ein Echo, das einen unendlichen Raum aufbricht. Dieser Beginn des Films La femme du Gange (1974) findet in keiner Zeit statt. Nicht im Heute und nicht im Gestern und schon gar nicht im Morgen. Man könnte von einem typischen Filmbeginn für das Kino der Marguerite Duras sprechen, wobei man bei ihrem Kino nur schwer zwischen Anfang, Mitte und Ende unterscheiden kann. Sie selbst hat einmal formuliert, dass es in ihren Filmen keine Zeit gäbe. Nur Regelmässigkeit und Präsenz. «Der Sinn stellt sich später ein, er braucht mich nicht.» Alle paar Jahrzehnte schafft jemand das Kino ab, um es unsagbar zu bereichern. Duras, neben Jean Cocteau und Pier Paolo Pasolini eine der wenigen bedeutenden Literat:innen, deren filmisches Werk genauso herausragend wie das schriftstellerische Schaffen nachhallt, ist das zweifellos gelungen. Ihre seit den späten 1950er-Jahren entstandenen Filme und Drehbücher folgen keinen bekannten Modi des Kinos. Handlungen werden angerissen, Figuren existieren als Schatten und Geister. Das beginnt bereits in Hiroshima mon amour (1959) von Alain Resnais, jenem filmischen Manifest an das, was nicht mehr zu sagen und zu zeigen war nach Hiroshima und dem Zweiten Weltkrieg. Die meisten Filmemacher: innen sind daran interessiert, einen konkreten Raum zu betreten, um das Leben und die Figuren dort zu erfassen. Duras aber bleibt weit weg, sodass der Raum nur noch eine Linie am Horizont ist, eine Ahnung. Man denke nur an die ins Abstrakte neigenden Bilder der Küstenlandschaft in Agatha et les lectures illimitées (1981). Auf der Leinwand nur noch Farben und Worte, Stimmen und Töne und dazwischen Gefühle. Und doch hat Duras die schönsten Filme über Müdigkeit gedreht, die schönsten Filme über das Warten, das hoffnungslose Begehren, die Eifersucht, das Sprechen, das Sich-selbst- Belügen und über die Einsamkeit, immer wieder die Einsamkeit. Ihre Protagonist:innen, in vielerlei Hinsicht Spiegel ihrer selbst, werden von Einsamkeit verzehrt. Es sind ungeliebte Frauen, betrogene, enttäuschte, ohnmächtig gegen den Zustand der patriarchalen Welt rebellierende Seelen. In ihnen rumort das Entsetzliche, das Unaussprechliche und das Unausgesprochene. Sie starren aus riesigen Fenstern, während ihr glasiger Blick von einer Verlassenheit erzählt, für die selbst diese begnadete Schriftstellerin keine Worte mehr finden konnte. Deshalb also Bilder und Töne? Wohl kaum. Stattdessen trachtete sie nach einer Auslöschung des Textes durch das Schreiben und einer Vernichtung des Kinos durch Bilder und Töne. Damit sind jeweils die kulturellen Grammatiken dieser Kunstformen gemeint. Duras kommt zurück zu den Dingen selbst, wenn sie das Medium hintergeht, das den Blick darauf versperrt. Das kommt einer Befreiung gleich. Statt Handlungen interessiert sich Duras für Zustände. Statt Repräsentation kümmert sie sich um Präsenz. Statt einer Vorwärtsbewegung folgt sie schwebenden, kreisenden Wiederholungen. Wie in ihrer Literatur, die ohnehin nicht getrennt von ihrem filmischen OEuvre betrachtet werden kann, gleicht die Struktur ihrer Filme musikalischen Variationen. Motive, Sätze, Bilder, Töne, Musik, alles kommt und geht wie Ebbe und Flut. Déjà-vus, die sowohl auf persönlicher wie auf geschichtlicher Ebene von einem Nicht-Entkommen erzählen. Alles kommt wieder. Das gilt für einzelne Filme wie ihre berühmteste Arbeit, India Song (1975), in dem die Titelmelodie erscheint, wie eine Erinnerung an eine Liebesnacht, von der man sich nicht sicher ist, ob sie überhaupt stattgefunden hat. Das gilt aber auch für die Zeit zwischen den Filmen und auch jene zwischen Texten und Filmen, die manchmal aufeinander aufbauen, sich dann wieder korrigieren oder gar widersprechen. Figuren erscheinen erneut, werden erwähnt oder schlendern als Geister durch die Korridore der oft dekadenten Villen und Hotels, in denen die Filme spielen. Ein sich im Verfall befindliches Nichtstun setzt ein, es bleiben nur noch von jedweder Handlung losgelöste Gesten, erstarrte Körper in schönen Kleidern. Man kann sich dieses Werk wie ein zigfach auf einer Leinwand übermaltes Gemälde vorstellen, bei dem man Schicht für Schicht abtragen kann, sodass ständig ein weiteres Bild offengelegt wird, dass von einem anderen verdeckt war. Es ist ein Versteckspiel von Marguerite Donnadieu, wie die in Französisch- Indochina geborene Tochter eines Lehrerehepaars eigentlich hiess – dazu gehört auch ihr stets mitschwingender Umgang mit der Kolonialgeschichte Frankreichs. In Filmen wie India Song oder Rithy Panhs Adaption von Un barrage contre le pacifique (2008) werden die Verhaltensweisen der Figuren stark von den politischen Bedingungen beeinflusst, ohne dass sich diese in den Vordergrund drängen würden. Widersprüche bedeuten alles für Duras. Sie dreht Sommerfilme im Winter, Liebesszenen im atomaren Regen, leidendes Begehren, Erinnerungen an das Vergessen. Sie hat stets verstanden, sich als andersartig zu inszenieren. Filme schaue sie kaum, sie interessiere sich nicht für das Kino. Ihr Kino, so betitelte sie einen ihrer Texte, sei ein anderes Kino. Alles aber hat Takt und folgt einer gesitteten, fast biederen, aber betörend schönen Ästhetik, in die sich Dekadenz und Ennui genauso einschreiben wie verdrängte Verzweiflung und unterdrückte Leidenschaft. Ein Schrei ist erlaubt, aber sonst muss ausgespart werden, damit wirklich gefühlt wird. Jedes Wort zu viel würde die delikaten Gebilde zum Einsturz bringen. Duras schützt das Geheimnis ihrer Arbeiten, es ist ein bisschen so, als würde Gatsby in The Great Gatsby nie wirklich auftauchen, so, als würde Nastasja in Dostojewskis Der Idiot immer nur weiter in den Beschreibungen anderer existieren. Die eigentliche Person interessiert Duras nicht, die eigentliche Person, das wirkliche Geheimnis ist sie selbst. Diese Filme sind Melodramen, nur dass die Filmemacherin selbst eine Figur geworden ist. Sie ist ja auch nicht einfach Duras, sie ist die Duras. Eine Berühmtheit, berühmt ob ihrer Intimität. Wie stark ihre Kunst mit dem Privatleben verschränkt ist, zeigt ein Film wie Vous ne désirez que moi (2021) von Claire Simon. Darin vermischt sich Literaturkritik mit privaten Geständnissen von Duras’ jahrelangem Lebensgefährten Yann Andréa. Liebesgeschichten und Erfahrungen von Schmerz sind Bestandteile eines beständigen Textes über das eigene Leben. Wenn andere betonen, dass sie filmen, um etwas zu erinnern oder bewusst zu machen, dreht Duras, um zu vergessen. Manchmal wird bei ihr alles gesagt, wenn geschwiegen wird. Nathalie Granger (1972) ist ein solcher Film zum Beispiel. Dass die, die schweigend alles sagen, von Delphine Seyrig oder Jeanne Moreau oder Gérard Depardieu dargestellt werden, hilft. Es ist eine grosse Kunst, alles zu sagen, wenn man nichts sagt. Am deutlichsten greift Duras das Kino in ihrem Le camion (1977) an. Dort sitzt sie selbst mit Depardieu vor der Kamera. Sie lesen ein Drehbuch, in dem ein kommunistischer Lastwagenfahrer auf eine Anhalterin trifft. Wiederholt kommentiert Duras ihren Text und spricht über die enttäuschten Ideale des Kommunismus. Hier gibt es keine Illusion mehr, nur den reinen Text und das, was er hätte bedeuten können. Trotz der Verfremdungseffekte entsteht ein unwiderstehlicher Sog in diesen Filmen. Er entsteht, indem Duras in jeder ihrer Arbeiten unbedingt in die Wahrnehmung ihrer Protagonist: innen eindringen möchte. Am Ende läuft ein entblösster Film auf der Leinwand. Diese radikale Offenlegung auszuhalten, das ist die grosse Kunst der Duras und ihr Angebot an uns, ihr zu folgen.

 

Patrick Holzapfel arbeitet literarisch, kuratorisch und journalistisch. Er ist Herausgeber des Online- und Printmagazins «Jugend ohne Film». Derzeit entsteht sein Debütroman, ausserdem ist er Gewinner des Open-Mike-Wettbewerb für junge Literatur-Finales 2022. 2016 Siegfried-Kracauer-Stipendiat des Verbands der deutschen Filmkritik, 2022 nominiert für den Siegfried- Kracauer-Preis für die Beste Filmkritik; 2022 Startstipendiat Literatur des Bundeskanzleramts Österreich.

 

Wir danken der Alliançe Française de Bâle und der französischen Botschaft in Bern für die freundliche Unterstützung dieser Reihe.

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