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ARCHIV | Filmreihe

 
Reihenbild

Wong Kar-Wai

Schillerndes Sehnsuchtskino


Stets wirkt es im Fluss, das schillernde Kino von Wong Kar-Wai. In behutsamen Bewegungen ertastet die Kamera Gesichter und Kleider; sintflutartige Regenfälle oder sich kräuselnder Zigarettenrauch werden in einem cineastischen Bildertanz nahezu direkt spürbar. Die Strassen seiner Grossstadt-Geschichten erstrahlen wie in Fallen Angels oder Chungking Express mal übersteigert in neonhaftem Glanz, mal leuchten sie grell bis pastellen und spiegeln dabei die Seelenlandschaften derer, die sie bevölkern: ein Kino wie ein Bewusstseinsstrom oder Prousts Madeleine, aus denen die Erinnerungen, Erfahrungen und Emotionen entspringen. All das ist für Wong Kar-Wai eng mit dem Erlebnisraum Hongkong und dessen wendungsreicher Geschichte verbunden, ein wiederkehrender Schauplatz für seine Filme. Sein Gespür für die flüchtigen Momente und damit eine alles durchziehende Melancholie für eine Gegenwart, die als zukünftige Vergangenheit bereits im Verschwinden begriffen ist, vermitteln – nicht zuletzt über seinen Ohrwurm-Soundtrack – ein einzigartiges Lebensgefühl und treffen den Zeitgeist auf bestechende Weise. Das Stadtkino Basel zeigt eine umfassende Werkschau des Hongkonger Ausnahmeregisseurs, darunter sieben in 4K restaurierte Meisterwerke, die in neuer Brillanz erstmals auf der Leinwand zu sehen sind.  

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ERINNERUNG, ERFAHRUNG, EMOTION

 

Wenn man Wong Kar-Wai (kurz WKW) treffen will, ist Timing wichtig. Man muss Glück haben und Geduld. Und einfach da sein. Im Juni 2003 ergibt sich die Chance auf einen privaten Besuch am Set von 2046. Dort lässt sich hautnah erfahren, wie sehr seine Arbeitsweise den Auteurs der Nouvelle Vague ähnelt: Kurzfristig entworfene Szenen, spontan geänderte Einstellungen. Dabei aber trotzdem Kontrolle: keine langen Takes, sondern kurze Aufnahmen, die immer neu wiederholt werden. Ganz langsam fährt die Kamera über ihre Objekte, scheint diese fast zu streicheln mit ihrem Blick, der auch ein wenig an den Blick eines Voyeurs erinnert und an den eines Fetischisten in seiner Aufmerksamkeit für Details. Der Regisseur koordiniert dabei fortwährend die Kamerabewegung – auch dies vor allem eine Frage des Timings. Hier weiss einer ganz genau, was er will, und wartet, bis er es bekommt. Im Schneideraum wird alles in monatelanger Arbeit komplettiert, strukturiert vom Rhythmus sanfter, kaum merklicher Wiederholungen und einer Musik, in der Kommendes schon anklingt, Vergangenes noch nachhallt; oft getragen von einem Voice-Over, das Inneres zum Sprechen bringt.

 

Kino als Bewusstseinsstrom  

 

Wong Kar-Wai, geboren 1958 in Shanghai, aufgewachsen im Hongkonger Exil, ist der Regisseur von bisher zehn Spielfilmen. Hinzu kommt ein gutes Dutzend bemerkenswerter Kurzfilme und Werbespots, deren ästhetischer Wert weit über den von Gelegenheitsarbeiten hinaus geht.  Gemeinsamkeiten seines Stils und seiner Erzählweise sind relativ einfach zu benennen: Hyperromantik, Sehnsuchtskino mit konkreten Mitteln. Die Farben in seinen Filmen sind üppig, manchmal neonhaft übersteigert, oft grell, gelegentlich auch pastellen. Meist sind sie komplementär angelegt, oft in der konkreten Lichtgebung geprägt von bestimmten Genres: allen voran vom Film noir der 1940er-Jahre und dessen Weiterführung in den Hongkong-Gangsterfilmen bis in die Gegenwart, sowie vom Hollywood-Melodram der 1950er-Jahre, dessen Vorläufern in Europa und dessen Pastiches im Werk von Rainer Werner Fassbinder. Sowie von der Nouvelle Vague, hier vor allem in Jean-Luc Godards Interpretation. 

 

Die Kameraführung seines langjährigen Kameramann und künstlerischen Partners Christopher Doyle ist flirrend; die Bilder fliessen und atmen spürbar – kein Stillstand, nirgends. So spürt man im Kino stets, dass ein lebendes Subjekt hinter dem Blick dieses Filmemachers steht, kein gottgleiches Wesen oder Instrument. Dieses Kino ist wie ein Bewusstseinsstrom: persönlich, emotional und verwundbar, die Bilder scheinen offene Poren zu haben, durch die sie mit der Aussenwelt interagieren. Sie sind manchmal nur wie Fetzen von Eindrücken, Gedanken, Gefühlen – das WKW-Kino täuscht nie vor, dass die Welt auf der Leinwand objektiv abbildbar sein könnte. Allenfalls ist sie subjektiv erlebbar, und jedes seiner Bilder ist wie Prousts Madeleine das Sesam-öffne-dich zu Erinnerungen, Erfahrungen, Emotionen ... 

 

Die Psychologie ist bei WKW selten tiefgründig, doch es gibt in seinen Filmen immer noch eine zweite psychologische Erzählebene, die im Visuellen liegt: üppige Zeitlupenaufnahmen, Wiederholungen, die die Vertrautheit von Ritualen ebenso evozieren wie die Ödnis der Langeweile des alltäglichen Lebens oder die Melancholie sehnsüchtigen Verzehrens und Vergehens. Doch bevor man es sich in solchen Gefühlen bequem machen könnte, kontert sie der Regisseur: Puzzleschnitte, stufenförmig angelegte, rasant vorwärts-peitschende Bewegungsszenen, bei denen die Hintergründe in Aquarelltönen gehalten sind, prägen den schrillen WKW-Look, der Mitte der 90er-Jahre das Kino bis zu einem bestimmten Grad revolutioniert hat – dabei visuell nicht gerade im Einklang, aber komplementär mit dem zur gleichen Zeit entstandene Dogma-Kino und der plötzlich auch in Hollywood in den 1990er-Jahren entdeckten Liebe zum achronologischen Erzählen. Der entscheidende Unterschied: WKW verzichtet auf Ironien, auf «wissendes Augenzwinkern» und die damit einhergehende Distanz. Er nimmt Stoffe und Gefühle ernst. Das Ergebnis ist ein energiegeladenes, unbelastetes und freigeistiges Werk.

 

Triumph der Flüchtigkeit

 

Vor acht Jahren hat WKW mit The Grandmaster seinen bislang letzten Spielfilm vorgelegt. In gewissem Sinn aber ist 2046 der letzte «richtige» Wong-Kar-Wai-Film. Ein Schlussstein, der verschiedene Möglichkeiten des Filmemachens, die er in früheren Werken ausgeführt hat, zu einem Ganzen verbindet. Über diesen Film geht es nicht hinaus – er ist selbst schon Zukunft des Kinos. Wenn man die Filme Wong Kar Wais jetzt wiedersieht, wird man überrascht sein, wie sehr sie vorführen, was dem Kino der Gegenwart gerade fehlt: Das Flüchtige, das Vergängliche ist Wong Kar Wais Thema. In seinen Filmen verbindet sich das Intime unmittelbar mit der Anonymität, der Vergänglichkeit, dem Ephemeren und der immer wiederkehrenden Einsamkeit und Verlorenheit inmitten des modernen Lebens. Immer wieder unternehmen die Figuren den Versuch, aus der Gleichgültigkeit und Entfremdung, dem schlafwandlerischen Dasein auszubrechen.

 

Zugleich entdecken (und mitunter: feiern) diese Figuren bei aller unterschwelligen Melancholie das Driften und die Ortlosigkeit als originäre Zustände der Moderne, insbesondere in einem Raum, für den die ständige Transformation zu einem so bestimmenden Lebensgefühl geworden ist, wie für Hongkong. Seit jeher ist die Hafenstadt Hongkong ein Knotenpunkt verschiedenster Kulturen und Mentalitäten, zudem ein Ort des Exils. Jeder Bereich des Lebens scheint im Fluss, Gebäude haben eine Lebensdauer von 20 Jahren, immer neue Strassenzüge werden dem Wasser abgetrotzt. Eine klare Identität ist schwer zu definieren, vielmehr ist die Bewegung selbst, freilich eine sehr spezifische Bewegung in bestimmten – originär Hongkonger – Räumen diese Identität. Kulturwissenschaftler haben diese Situation Hongkongs als «Kultur des Verschwindens» bezeichnet. Auch die besondere politische Lage Hongkongs führt dazu, dass die Gegenwart dort als eine zukünftige Vergangenheit wahrgenommen wird, dass ihr Ende bereits eingeschrieben ist. Dies gilt spätestens seit dem chinesisch-britischen Vertrag von 1984, der das «Handover» Hongkongs für das Jahr 1997 festsetzte, und zugleich eine 50-jährige Übergangsphase unter dem Grundsatz «One country, two systems» vorsah. Genau das letzte Jahr dieser «Transition»-Periode nimmt WKW bereits mit dem Titel 2046 in den Blick. Das futuristische Hongkong im Film ist ein Fluchtpunkt der verschiedenen Eindrücke von dieser Metropole seit den 60er-Jahren. 2046 handelt davon, ohne die Stadt ein einziges Mal zu zeigen.

 

WKWs Blick auf Hongkong ist auch in seinen anderen Filmen melancholisch, also von einer grundsätzlichen Trauer um das Verschwinden durchzogen, zugleich wissend um die Vergeblichkeit dieser Trauer und aus diesem Wissen emotionale Funken schlagend. Seine Filme ergeben sich nicht dem Verschwinden, sie geben ihm aber Raum. Diese «Nostalgia for the Present», die Betrachtung der Gegenwart als einer zukünftigen Vergangenheit, ist eine kreative Nostalgie, denn sie enthält die Phantasien eines Zeitalters, sein Imaginäres, und erst in diesen Phantasien entfaltet sich eine mögliche Zukunft. Sie enthält sogar die paradoxe Nostalgie für etwas Unbekanntes, den Figuren wie Machern und Publikum Unbewusstes. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Unruhen, und des Kampfes vieler Hongkonger um den Erhalt ihrer Bürgerfreiheiten und Selbstbestimmungsrechte werden diese Filme auch zu Zeitkapseln, die vergangene Zukünfte und Möglichkeiten aufbewahren.

 

Wong Kar-Wai rettet damit die innere Realität, rettet Zeitgeist und Lebensgefühl, aber auch Phantasien. Im Beiläufigen, mit unscheinbaren Objekten und flüchtigen Eindrücken werden komplexe Erinnerungsräume und imaginäre Vergangenheiten konstruiert, die wirkungsvoller sind als jedes «objektive» Dokument äusserer Realität. Wong Kar-Wai ist ein Archivar des Imaginären. 

 

Rüdiger Suchsland ist Regisseur, Autor, Journalist und Filmkritiker. Er schreibt regelmässig für verschiedene Tageszeitungen, Filmmagazine und Radiosender wie u.a. den film-dienst, artechock und den deutschlandfunk. Hinzu kommen Moderationen, Lehraufträge und die Mitarbeit bei verschiedenen Filmfestvials. 

 

Wir danken der Filmcoopi Zürich zur Verfügungstellung der neu restaurierten und digitalisierten Fassungen.

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