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ARCHIV | Filmreihe

 
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Miloš Forman

Grausam komisches Theater


Es ist die Beobachtungsgabe, die im Kino des Miloš Forman sofort und wortwrtlich ins Auge sticht. Die Filme des tschechischen Meisterregisseurs werfen präzise Blicke auf die Mentalitäten ihrer Zeit: Auf der Leinwand lässt sich liebenswerten Aussenseiter:innen, Unangepassten und charismatischen Rebell:innen in ihren ganz alltglichen Verstrickungen folgen, die soziale Verhltnisse sichtbar machen. So ernst seine wiederkehrenden Themen wie repressive Gesellschaftssysteme und Generationenkonflikte sein mögen, sie sind zumeist gepaart mit einem entlarvenden Sinn für das (grausam) Komische. Grimmige Wahrheiten verbinden sich bei Forman mit ausuferndem Lachen, eine stets unterhaltsame und aufschlussreiche Kombination! Schon zu Zeiten der SSR avancierte er mit Filmen wie Der schwarze Peter oder Die Liebe einer Blondine zum Publikumsliebling wie Unruhestifter, bis er gezwungenermassen in die USA emigrierte. Nur um dort mit Filmen wie One Flew over the Cuckoos Nest, Hair oder Amadeus noch einmal so richtig durchzustarten; damals preisgekrönt und längst echte Klassiker, die es heute mehr denn je (wieder) zu entdecken lohnt!    

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VOM BEOBACHTEN DES BEOBACHTERS

 

Was lernt ein Verkäuferlehrling am ersten Arbeitstag im Supermarkt? Diskret nachschauen, ob die Kundschaft nicht stiehlt! Der Chef findet das richtig und wichtig, der Sechzehnjährige hingegen eine Zumutung. Er stellt sich so lustlos und ungeschickt an, dass alsbald die Kunden ihm nachschauen. Dem Chef zuliebe macht er dann doch einen ‹Verdächtigen› aus, folgt dem Mann auf die Strasse, bleibt unschlüssig stehen, wenn jener stehen bleibt, dreht sich zögerlich um, wenn jener sich umdreht. In der unwillkürlichen Verdoppelung entspinnt sich ein sanfter Slapstick alltäglicher Bewegungen, und die Kamera verfolgt den Verfolger auf dem zunehmend ziellosen Gang durch die Stadt. An seinen Arbeitsplatz kehrt er übrigens nicht mehr zurück.
Miloš Formans Schwarzer Peter (1963) beginnt mit einer virtuosen Etüde über das Beobachten ‒ durch die Ladenfront und den Garderobenvorhang, über die Regale und die Gasse, mit blossem Auge und durch die Kamera. Man kann darin fast alles ausmachen, was Formans unverwechselbares und doch zuweilen disparat wirkendes Filmschaffen prägt. Da ist einmal das leidenschaftliche Interesse für das Zeitgenössische, verbunden mit einem sicheren Gespür für dessen komische Dimension: Die Ära Stalin und McCarthy mit ihrem Verfolgungswahn ist eben erst vorbei, «kafkaesk» ein Modewort, und man darf den widerwilligen Spionagelehrling durchaus als bissigen Kommentar zur Mentalität der Zeit verstehen. Vorgebracht wird er von jungen Filmemachern, die mit Neugier und Selbstbewusstsein eine neue Epoche einläuten. Plötzlich sind es die Lehrlinge, die den Chefs der staatlichen Studios vorführen, wie man gute Filme macht: mit Offenheit für Inspiration (Stichwort Cinéma vérité und Nouvelle Vague), kleinem Budget, handwerklicher Sorgfalt und überbordender Lust an Unterhaltung und Experiment.
In ihrer Machart wie in ihrer Handlung leben [Der schwarze Peter], aber auch [Wettbewerb] (1963) und [Die Liebe einer Blondine] (1965) vom Zusammenstoss der Perspektiven: der Söhne und der Mütter, der Töchter und der Väter. Dass Forman manche Rollen mit Laien besetzt, mit Improvisation arbeitet und Originalschauplätze bevorzugt, verleiht den Filmen eine authentische Leichtigkeit, die bis heute fasziniert.
Das Thema des Generationenkonflikts verfolgt Forman über Jahre hinweg bis zu [Taking Off] (1971) und [Hair] (1979), und es verhilft ihm indirekt auch zum hart erkämpften Durchbruch in den USA: Die Romanvorlage von [One Flew Over the Cuckoo’s Nest] (1975) ist ein Kultbuch der 1968er. Kirk Douglas hatte es Forman, beeindruckt von dessen frühen Erfolgen, bereits in den Sechzigerjahren in Prag zur Verfilmung angeboten.
Dass es erst zehn Jahre später dazu kam, ist den vielen Wendungen in Formans Laufbahn geschuldet. Immer wieder zwangen ihn äussere Umstände, sich neu zu erfinden. Im Publikumsrenner [Der Feuerwehrball] (1967) sahen die tschechoslowakischen Machthaber eine Verunglimpfung der ‹gewöhnlichen Leute› und ‒ schlimmer! ‒ eine Satire auf die kleptokratischen Lokalbonzen. Da half es nichts, dass die echten Feuerwehrmänner betonten, der Streifen sei absolut realistisch: Er verschwand kurzerhand aus den Kinos. [Taking Off], Formans erste Erkundung der Hippie-Bewegung, kam zwar bei der Kritik an, war aber in den USA ein kommerzieller Misserfolg. An die Stelle der linkischen Jugendlichen und ihrer überforderten Eltern in [Der Schwarze Peter], [Die Liebe einer Blondine] und [Taking Off] tritt jetzt ein ganz anderer Typus, der charismatische Rebell: Jack Nicholsons legendärer Anstaltsinsasse führt in [One Flew Over the Cuckoo’s Nest] seinen erbitterten Krieg gegen die Institution, verkörpert in Louise Fletchers vollendet eiskalter Oberschwester. Der Aussenseiter, der Individualist, der sich umso weniger um seinen Ruf schert, je mehr er den Rest der Welt gegen sich hat ‒ fast alle späteren Filme Formans, häufig als opulent ausgestattete Biopics daherkommend, leben von dieser Figur: [Amadeus] (1984), [The People vs. Larry Flint] (1996), [Man On The Moon] (1999) oder [Goya’s Ghosts] (2006).
Oft wurde Forman ein Herz für diese Unangepassten attestiert, und wer fände das nicht sympathisch und tapfer. Und doch verhält es sich damit komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Kommen wir noch einmal auf das Beobachten zurück, und damit auf Formans Anfänge.
Der junge Miloš Forman, der eigentlich zum Theater wollte und eher zufällig ein Dramaturgiestudium an der Filmakademie absolviert hat, verkehrt Ende der 1950er-Jahre in der aufblühenden Szene der Prager Kleinbühnen. Dort wird er Zeuge eines Vorsingens, bei dem eine neue Sängerin ausgewählt werden soll. Forman schockiert der brutale Zauber des Mikrofons: Ihr Ehrgeiz treibt die jungen Kandidatinnen zur kompletten Selbstentblössung und jagt dem Beobachter Schamgefühle ein. «Ich beschloss, einen Film zu machen, den ich mir ohne Scham ansehen kann, und ich nötige das Publikum, sich dieses grausame Theater mit mir zusammen anzusehen», so Forman in seiner Autobiographie. Er stellt das Casting nach, engagiert Laien und Jungtalente, lässt sie improvisieren, setzt sie in Szene. [Wettbewerb] wird Formans Debüt, das im Geist der Zeit, aber auf unverwechselbar geschickte Art und Weise, die Ebenen von Dokument und Fiktion vermengt. Ein entlarvender Blick auf eine TV-Castingshow avant la lettre ‒ als habe Forman das Genre erfunden und gleichzeitig an seine Grenzen gebracht.
Das «grausame Theater» der Selbstentblössung findet freilich nicht nur beim Casting statt, sondern Theater ist überall ‒ und für Forman geradezu existenziell. Schon sein Bruder nimmt ihn als Jungen mit zum Laientheater. Sein grosser Lehrer ist der legendäre Theater- und Filmregisseur Alfréd Radok (1914‒1976), der von der Formsprache der Vorkriegs-Avantgarde her kam und in den 1950er-Jahren  eine eigenwillige, hochstilisierte Verschmelzung von Theater, Film und Ballett schuf, die er [Laterna magika] nannte. Noch dort, wo Forman sich von seinem Meister entfernt und das Dokumentarische und Alltägliche sucht, lotet er mit hohem Formbewusstsein die theatralische Dimension des Lebens aus: die Selbstdarstellung und die Entlarvung, das Vorführen und Vorgeführtwerden, das Vorspielen und Zuschauen. [Taking Off] beginnt fast zehn Jahre später wieder mit einem Casting-Auftritt. Das Duo Mozart‒Salieri kehrt in [Amadeus] das Theatralische von Shaffers Bühnenvorlage hervor. Und man denke an die Dorfball-Szenen in [Schwarzer Peter], [Die Liebe einer Blondine] und im [Feuerwehrball]: Die Grüppchen an den Tischen beäugen einander endlos über das Parkett hinweg, die Generationen und Geschlechter beobachten sich gegenseitig bei ihren entlarvenden Auftritten, verwundert und verständnislos.
Die Tatsache, dass Formans frühe Filme in diesen Situationen keine Partei ergreifen, macht sie so sympathisch wie prekär: Das Beobachten des «grausamen Theaters» hat etwas Anteilnehmendes und Abwertendes zugleich ‒ besonders dort, wo die Auftritte zwar improvisiert wirken, aber doch hintergründig inszeniert, ja provoziert sind. Man muss nicht gleich der Kritik der bornierten kommunistischen Machthaber am [Feuerwehrball] zustimmen, wenn man die Tendenz zur Karikatur problematisch findet. Solche Vorbehalte gibt es auch bei [One Flew Over the Cuckoo’s Nest], wenn die (echten und gespielten) psychisch Kranken Gefahr laufen, zu spassigen Figuren zu verkommen.
Es hat aber dort seine befreiende und zutiefst menschliche Seite, wo die Protagonisten ihre Blösse auf der Bühne annehmen können und selbst über das «grausame Theater» der menschlichen Existenz lachen. Es ist nur konsequent, dass Forman bei [Man On The Moon] landet, wo Jim Carrey als Anti-Bühnentalent Andy Kaufman die Bühne ad absurdum führt. Mozarts durchdringendes Wiehern, das sich durch [Amadeus] zieht, berichtet davon, wie frei jemand ist, den es wirklich nicht kümmert, was die andern von ihm denken.

 

Georg Escher ist Dozent für Tschechisch am Slavischen Seminar der Universität Basel und Übersetzer. Er beschäftigt sich mit tschechischer Alltagskultur des 20. Jahrhunderts und den deutsch-tschechischen Kulturbeziehungen.

 

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