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ARCHIV | Filmreihe

 
Reihenbild

Federico Fellini

Kino der Erinnerung


Fellini, die Zweite – nach Teil 1 zum «Kino der Träume» widmet sich das Stadtkino Basel im März den Meisterjahren des unvergessenen Ausnahmeregisseurs. Entwickelte sich sein Kino in den Anfangsjahren zu einem Hort der Träume, so quillt es ab den späten 1960er-Jahren über von Erinnerungsfantasien: in Bildern voller Extravaganz und Magie, die ihre Gemachtheit nie bestreiten und gerade deshalb so viel Wahres vermitteln. Es ist die Suche nach verblassenden Wirklichkeiten, stets mit einem ironischen Augenzwinkern und süsse Melancholie versprühend. Ob betörendende Nebelfelder in Amarcord oder illusionistische Ansichten in E la nave va, in dem ein an Heimweh leidendes Nashorn im Rettungsboot zum Schlussbild gerinnt  – Fellini kreiert unvergessene Bilder, ohne die keine Filmgeschichte auskommt. Und Bilder, die von der Faszination am Leben zeugen und die gleichzeitigen Bewegungen von Städten (Roma und Satyricon), des Begehrens (La città delle donne), von Bühnen (I Clowns, Ginger e Fred) oder von Filmsets (Intervista) aufsaugen – bis die Kamera um sich selbst dreht und einen Strudel erzeugt, der tiefer in die Vergangenheit weist.    

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SCHAFE IM LICHT DES KINOS   

 

Wenn nach langen Stunden ausschweifender Geschäftigkeit alles schläft in Rom, durchwandern stumme Hirten mit ihren Schafen die Strassen der Stadt. Die Hammel sind stiller als die Menschen, die zuvor den pulsierenden Rhythmus der italienischen Metropole vortanzten. An den Wänden, der im Filmstudio errichteten Kulissen erscheinen die Silhouetten der Herde wie das unwirkliche Echo einer aus den Fugen geratenen Zirkuswelt, in der hingebungsvoll geflucht, geliebt und gelacht wird. Ein solches Geflecht aus Bildern und Paradoxien kann nur dem Kino Federico Fellinis entspringen, der spätestens Ende der 1960er-Jahre jeglichem neorealistischen Anspruch entwuchs, um sich flamboyanten und selbstreflexiven Erinnerungsfantasien hinzugeben. Roma (1972), I Clowns (1970), Amarcord (1973) oder E la nave va (1983) sind einige der grossen Titel seiner Spätphase.  

 

Eine Hälfte Magie und eine Hälfte Schlachthaus lautete seine dramaturgische Maxime, die alles zugleich ironisch und wahrhaftig erscheinen lässt. Er wirft sich so tief in die Dekadenz, dass sie fast zu glänzen beginnt, aber er hält sie gleichermassen für so verwerflich, dass er ihren Abgrund immer im Auge behält. In E la nave va beispielsweise gibt er sich hemmungslos satirischen Betrachtungen einer vornehmen Reisegesellschaft auf einem Ozeandampfer unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hin, ehe aus dem laut tönenden Irrsinn mit einem Mal ein erhabener Augenblick entspringt, weil ein spontanes Orchester einen der «Moments musicaux» Franz Schuberts auf herumstehenden Weingläsern erklingen lässt.  

 

Der australische Filmkritiker Adrian Martin bemerkte einmal, dass Fellini am schwermütigsten sei, wenn er sich mit Individuen befasse, und am fröhlichsten, wenn er sich Menschenansammlungen und Gruppen widme. Tatsächlich verschiebt sich der Fokus im Werk des 1993 verstorbenen Regisseurs zunehmend hin zu den Bewegungen der Masse. Die einsamen existenzialistischen Streuner à la Mastroianni werden seltener, auch wenn sie in der moralisch armseligen Figur des Giacomo Casanova oder in Gestalt Terence Stamps in Fellinis Poe-Verfilmung Toby Dammit (1969) nochmal auftauchen. Stattdessen also das Rauschen der Masse. Die Filme werfen sich förmlich in die gleichzeitigen Bewegungen von Städten (Roma, Satyricon (1969)), des Begehrens (La città delle donne (1980)) oder von Filmsets (Intervista (1987)). Es wird getanzt, gebrüllt und gerannt. Tiere bevölkern die Szenen. Der Wind kann jederzeit alles umwerfen. Das Wetter wechselt unentwegt. Figuren und Kamera folgen Impulsen. Sie verführen, stossen ab oder berauschen. Lustvolle Blicke werden ausgetauscht, es wird gekichert und in dunklen Nischen miteinander geschlafen. Fellini ist der Dionysos des Kinos, aber oft reitet er nur rauschhaft mit Dionysos in die Nacht, um mit Appollon Sinn und Ordnung zu finden. Er interessiert sich für das, was unter dem Lärm der Zeit liegt. Wiederholt dreht sich die Kamera um sich selbst, um alles einzufangen, aber gleichzeitig erzeugen diese kreisenden Bewegungen einen Strudel, der die Vergangenheit evoziert.   

 

Denn nicht nur die tausenden Statisten, durch die Einstellungen rasenden Strassenhunde und wie durchs Bild fliegenden Nebendarsteller erzählen von einer Gleichzeitigkeit, sondern auch die sich mehr und mehr durch jegliche Gegenwärtigkeit drückende Erinnerung. Mit ihr kommt die süsse Melancholie. In Prova d’orchestra (1978), einer kleinen Perle im Kino Fellinis, erinnert sich der Kopist besserer Zeiten, und als eine Maus die Proben stört, löst das eine Kriegserinnerung aus, während in einer herausragenden Sequenz mit Anita Ekberg und Marcello Mastroianni in Intervista die Jugend der beiden Darsteller in La dolce vita (1960) mit deren Gesichtern 27 Jahre später gegengeschnitten wird. Aus dem verspielten Wiedersehen lässt sich für die Sekunden einer Nahaufnahme der beiden Stars die Zeit selbst ablesen. Es ist ein tragisches Bild, aber Fellini trachtet auch hier nach Gleichzeitigkeit: Komödie und Tragödie, Verzweiflung und Ekstase, Absurdität und Konsequenz. Alles bebt zugleich. Die Filme füllen sich langsam mit dem Tod. Das macht sie schöner und brutaler zugleich. Wir bestehen aus Erinnerungen, schrieb Fellini in seiner Autobiografie. Wir sind zugleich Kindheit, Jugend, Alter und Reife. Das betrifft selbst das unter Heimweh leidende Nashorn in E la nave va

 

Die Figuren werden alt. Wie Bario der Clown in I Clowns streifen sie als Geister der Vergangenheit durch eine Welt, die sie nicht mehr erkennen. Am Ende bittet der Regisseur selbst darum, die Lichter zu löschen. Dunkelheit, das Ende, Ruhe. Fellinis Filme sind extravagante Beerdigungen verblassender Wirklichkeiten. Die für den Neorealismus so entscheidende Gegenwart entgleitet den späteren Filmen. Er ist ein Fantast, ein Zauberkünstler, der bemerkt, dass nicht mehr gezaubert wird. Es ist kein Zufall, dass immer wieder Filmteams gezeigt werden. Egal ob in I Clowns, Intervista oder Prova d’orchestra, es geht um konstruierte Welten und Fellini zeigt das an. Dabei interessiert ihn keineswegs ein Brecht’scher Gestus, der die Illusion brechen wollen würde. Nein, Fellini will beweisen, dass die Illusion immer gewinnt, egal in welchem Rahmen sie entsteht. Alles ist Fiktion, alles ist wahr.   

 

Politische Untertöne gibt es, aber sie bleiben abstrakt. Fellini interessiert sich für den Zustand der Welt, nicht für Tagespolitik. Seine Satire schiesst nach oben und unten zugleich. Das zeigt sich vor allem in seinem Amarcord, in dem Fellini seine eigene Kindheit im faschistischen Italien der 1930er-Jahre zum Leben erweckt. Alle Figuren sind hier Karikaturen. Das zeigt sich etwa in einer Szene, in der die Bewohner des Dorfes nach draussen strömen, um die Passage von Mussolinis Stolz, dem Passagierschiff Rex zu bewundern. Eine Szene, die die falschen Träume vorführt und die Masse als Schafherde entlarvt. Genau darum geht es. Italien ist hier der verformte und lachhafte Dreck, der am Absatz des Stiefels klebt. Aber selbst an diesem Absatz, gibt es Schönheit zu bestaunen. Fellini parodiert nichts weniger als die Wirklichkeit und sucht trotzdem nach einem Humanismus, der als Seelenzustand die Welt erklärt.  

 

Die meist aufgeregten Mitglieder der Film- und Fernsehteams verweisen auch auf Fellini, der seine Rolle als Filmemacher reflektiert. Seine Filme sind Spiegel, verzerrt sicherlich, aber Spiegel ins Gewissen des Filmemachers. Fellini inszeniert das Kino, weil er in ihm lebt. Er stellt die Traummaschine ins Angesicht des Menschen und umgekehrt. Dabei bricht er auch immer wieder die Rolle des Regisseurs und zeigt, dass ein Film aus vielen Stimmen besteht. Das betrifft natürlich auch seine Arbeit. Die Musik Nino Rotas, das Szenenbild Dante Ferrettis oder die Kostüme Danilo Donatis tragen massgeblich dazu bei, dass der magische Rückzug in die entrückten Traumwelten zum sinnlichen Fest wird.  

 

So wie die Schafe in der eingangs beschriebenen Szene in Roma in die Hauptstadt dringen, so endet auch das filmische Werk Fellinis in seinem La voce della luna. Darin bewegt sich der Protagonist Ivo (Roberto Benigni) in der Nacht langsam auf den verzauberten Brunnen und den am Himmel erstrahlenden Mond zu. Man hört einige Frösche quaken, aber sonst ist es still. Wenn wir uns alle ein bisschen beruhigen würden, sagt Ivo, würden wir vielleicht etwas verstehen. Niemand hat diese rar gewordene, verzaubernde, unwirkliche, lebensnotwendige Stille nach dem Lärm schöner gefilmt als Federico Fellini. In dieser Stille wird noch mal alles möglich. Man kann jung sein und träumen. Das ist schon viel.  

 

Patrick Holzapfel studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaften an der Universität Wien. Er ist Filmemacher und freischaffender Autor. Er schreibt literarische Texte und regelmässig in seinem Blog Jugend ohne Film über Film. Zudem arbeitet er als Kurator für verschiedene Filmmuseen. 

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