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ARCHIV | Filmreihe

 
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Céline Sciamma

Sensible Genauigkeit


Mitreissend und einfühlsam geschriebene Figuren, die sich in präzise choreografierten Räumen begegnen, deren gegenseitige Blicke fesseln und faszinieren; unvergessliche, prägnant einsetzende Musik – und dazu existenzielle Themen, die mit einer beiläufigen Leichtigkeit erzählt werden; all das fügt sich im Schaffen der französischen Filmemacherin Céline Sciamma zu einer kongenialen Verbindung zusammen und entfaltet eine unwiderstehliche Wirkung. Ein filmisches Ereignis etwa die brilliante, historische Liebesgeschichte Portrait de la jeune fille en feu, die Publikum und Kritik gleichermassen betörte – und zu einem zweiten oder dritten Blick auf die Kinoleinwand einlädt. Oder ihr neuestes Werk Petite maman, eine erzählerisch dichte und virtuose Zeitreise durch eine ergreifende Familiengeschichte, das nun im Stadtkino in seiner ganzen Strahlkraft entdeckt werden kann. Wir präsentieren eine umfangreiche Werkschau Sciammas, darunter alle Regie- und ausgesuchte Drehbucharbeiten einer der wichtigsten Filmemacherinnen der Gegenwart und zeigen drei Filme, die ihr Schaffen entscheidend geprägt haben.  

 

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Nicht mehr hier, noch nicht ganz dort  

 

Durch die Gartentüre gelangt die kleine Nelly in den Wald, der hinter dem Haus ihrer vor kurzem verstorbenen Grossmutter liegt. Manchmal ist, wenn Nelly durch den Wald hindurch in das Haus zurückkehrt, die Zeit eine andere und die Grossmutter noch am Leben und sehr viel jünger. Und Nellys Mutter Marion wiederum ist so alt wie Nelly selbst, nämlich acht. Marion ist die Spielkameradin, die Nelly im Wald kennengelernt hat, als sie auf der Suche war nach jenen vier Bäumen, zwischen denen ihre Mutter einst eine Hütte aus Ästen gebaut hat. Damals eben, als diese noch klein war und mit (Gross-)Mutter zusammen in jenem Haus gewohnt hat.

 

Ja, wenn man das so liest, dann scheint es etwas vertrackt zuzugehen in Petite maman, mit dem Céline Sciamma dem Filmjahr 2021 einen seiner Juwelen geschenkt hat. Aber Fragen nach dem Wie und dem Warum dieser Zeitenreise stellen sich, wenn überhaupt, dann nur flüchtig und am Rande. Ob das nun ein verzauberter Wald ist, in dem die Handlung sich ereignet, oder der endlose Raum der kindlichen Fantasie, oder auktoriale Willkür – ist das wirklich von Bedeutung? Oder ist nicht vielmehr das Entscheidende der Trost, der darin liegt, dass diese fantastische Setzung der Erzählerin, Mutter-Tochter-Begegnungen auf vielerlei Ebenen und in stetig wechselnder Gestalt möglich macht? So dass durch das Heraustreten aus der gewohnten Rolle «Kind» und/oder «Mutter» (und/oder «Grossmutter»), dass also aus diesem Rollentausch heraus sowie dem damit geänderten Blick auf die je Andere auch ein neues Verständnis für sie entstehen kann.   

 

Am Ende spricht Nelly ihre Mama, die sie nunmehr als kleines Mädchen kennengelernt hat, nicht mit «Maman», sondern mit deren Vornamen «Marion» an – und darin drückt sich keine vertrauliche Übergriffigkeit aus, wie anti-autoritäre Erziehungsmethoden sie propagieren, sondern die Erkenntnis des Kindes, dass auch im (bewunderten/gefürchteten) Erwachsenen noch die gleiche Angst und Überforderung steckt wie im Kind selbst. Manche Räume verlassen wir nur, indem wir sie weiter mit uns durchs Leben tragen.   

 

Die Filmemacherin und Drehbuchautorin Céline Sciamma ist eine meisterliche Erzählerin dieser Räume. Geboren wird sie am 12. November 1978 in Pontoise, nordöstlich von Paris. Sie studiert zunächst Französische Literatur, bevor sie ein Drehbuchstudium an der renommierten Pariser La Fémis absolviert. Sie schreibt zwei Kurzfilme für Jean-Baptiste de Laubier, der als Techno-DJ unter dem Namen Para One bekannt ist und in der Folge für die Filmmusiken ihrer Regiearbeiten verantwortlich zeichnen wird. 2007 legt sie mit Naissance des pieuvres ihr Regiedebüt vor und setzt damit zugleich Themen und Töne ihres künftigen Œuvres.  

Sciamma nimmt drei Mädchen in der Pubertät in den Blick, die zierliche Marie, ihre beste Freundin Anne, und die schöne Wasserballerina Floriane (Adèle Haenel, mit der Sciamma eine langjährige Liebesbeziehung verband). Differenziert schildert sie sodann das Erwachen des sexuellen Begehrens und zeigt, was der heftige Aufprall ungewohnter Gefühle in den Mädchen anrichtet. Und völlig unromantisch wie schonungslos tritt dabei zutage, dass die erste Liebe und das erste Mal ausgesprochen schwierige und leidvolle Erfahrungen im Leben von Heranwachsenden sein können.   

Es folgt mit Tomboy einer der grossen Erfolge des Jahres 2011; eine kleine Gender-Erforschungsgeschichte, unaufgeregt und mit leichter Hand anberaumt, mit feinem Gespür für die dramatischen Konsequenzen entwickelt und allem verursachten Kummer zum Trotz zu einem zuversichtlichen Ende gebracht: Die zehnjährige Laure ist neu im Wohnblock und wird, als sie das erste Mal auf die ortsansässigen Kinder trifft, ihrer schmalen Statur und kurzen Haare wegen für einen Jungen gehalten. Kurzerhand schlüpft sie in die angebotene Rolle und probiert sie aus. Wir lernen etwas über Differenz, dass diese als Haarriss und als Abgrund erscheinen kann, und dass sie alles umfasst, was dazwischen ist.   

 

Das Dazwischen, der Übergang, der Raum, von/aus dem Sciamma erzählt. Dort gibt es nichts Festes. Oft sind noch nicht einmal Beginn und Ende deutlich von dem geschieden, was davor und danach liegt und was der Übergang verbindet oder trennt, je nach Blickwinkel. Gemeint ist hier also kein Tunnel, keine Konstruktion, die die eine Seite mit der anderen verbindet; selbst wenn es Betroffenen oft so scheinen mag, als müssten sie sich durch Dunkelheit graben zurück ans Licht. Vielmehr ist die Rede von klassischen Transitionsphasen wie Kindheit und Pubertät, Erwachsenwerden, Veränderungen im Beziehungsstatus respektive Familienstand beziehungsweise Umfeld, Hadern mit der Identität, Finden der sexuellen Orientierung, Fertigwerden mit Verlust. Und so weiter. Leben eben. Insofern ist der Übergang auch der Urgrund alles Narrativen; der Nährboden, in dem eine jede Geschichte wurzelt, keimt, wächst.   

 

Mit seinem komplett schwarzen Cast fügt Bande de filles Sciammas Werk 2014 eine neue Perspektive hinzu: Gemeinsam machen die 16-jährige Marieme und die Mädchengang um Lady Paris und die Banlieues unsicher. Doch all die lautstarke Grossmäuligkeit und all das coole Posen, das Feiern und das Flirten täuschen nicht darüber hinweg, dass schwerwiegende und zukunftsweisende Entscheidungen anstehen. Die Laiendarstellerinnen garantieren Authentizität und bringen eine ungeheure Spielenergie mit. Die Filmemacherin steuert die Neugier auf das besondere Milieu und den kritischen Blick auf die sozialen Verhältnisse bei. Die Gelassenheit der visuellen Gestaltung – lange Fahrten und Plansequenzen, die geduldig abwarten und aufzeichnen – bildet dabei ein produktives Gegengewicht zur überschäumenden Lebendigkeit der Protagonistinnen.  

 

Sciammas spezifischer Blick auf das Heranwachsen ist eine Qualität, die von ihren Filmemacherkollegen geschätzt und gesucht wird. So schreibt sie, gemeinsam mit André Téchiné, der dann auch Regie führt, das Drehbuch zu dem Coming-of-Age-Drama Quand on a 17 ans sowie, basierend auf Gilles Paris‘ Roman «Autobiographie d'une Courgette» (2002), das Drehbuch zu Claude Barras‘ Stop-Motion-Animation Ma vie de Courgette; für Letzteres erhält sie den César für das Beste adaptierte Drehbuch. Ihre jeweiligen Premieren feiern die beiden Filme 2016 in den Wettbewerben von Berlin und Cannes; sie sind ebenso selbstverständlicher Bestandteil dieser Hommage wie drei Referenzfilme, die Sciamma als für ihr Schaffen relevant bezeichnet: The Band Wagon (Vincente Minnelli, 1953), weil Musik in ihren Filmen keine illustrative Funktion im Hintergrund übernimmt, sondern ein Ausrufezeichensetzendes Element der Narration ist. Trois couleurs: Bleu (Krzysztof Kieslowski, 1993), weil sich damit die Jugenderinnerung eines frühen prägenden Kinobesuchs in Paris verknüpft. Je tu il elle (1974), weil Chantal Akerman «eine der wichtigsten Filmemacher: innen» ist - so diktiert es Sciamma einem Filmkritiker in die Feder und dem ist nichts hinzuzufügen. (Ende April startet übrigens in den Schweizer Premierenkinos Les Olympiades von Jacques Audiard, an dessen Drehbuch - das auf Geschichten des Comic-Zeichners Adrian Tomine basiert - Sciamma gemeinsam mit Léa Mysius mitgewirkt hat.)   

 

Ihren bislang grössten Erfolg feiert Céline Sciamma 2019 mit Portrait de la jeune fille en feu, der unter anderem in Cannes mit dem Preis für das Beste Drehbuch sowie mit der Queer Palm ausgezeichnet wird. Es ist ein Liebesfilm in historischem Rahmen – 1770 wird die junge Malerin Marianne damit beauftragt, das Hochzeitsporträt der jungen Adligen Héloïse anzufertigen; ganz sacht, doch umso intensiver entbrennen beide füreinander - , der es sich leistet, in der Ausstattung karg zu bleiben und in der Schauspielerei verhalten. Dessen dennoch geradezu explosiver Reichtum an Gefühl sich speist aus der Bedeutsamkeit der Blicke, aus zarten Gesten und leisen Worten, aus Sciammas sicherem Gespür für Bewegung in Zeit und Raum. Es ist der Blick der Frau, der sich in Portrait de la jeune fille en feu behauptet. Er braucht dafür nicht den männlichen Opponenten; sie ist sich selbst genug.  

 

Alexandra Seitz ist freie Autorin und Filmkritikerin. Sie lebt und arbeitet in Berlin und Wien.  

 

Wir danken der Alliance Française für die freundliche Unterstützung dieser Reihe.

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