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ARCHIV | Filmreihe

 
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Neorealismo

Wahrheiten in Schwarz und Weiss


Er gilt als die einschneidenste Bewegung der Kinogeschichte. Auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs und in Abgrenzung zum faschistischen Kino unter Mussolini begründete der italienische Neorealismus der 1940er- und 50er-Jahre eine neue Stilrichtung, die bald zur Avantgarde des europäischen Filmschaffens werden sollte. Der ungeschminkten Wirklichkeit verpflichtet suchten Regisseure wie Luchino Visconti, Roberto Rossellini oder Vittorio De Sica nach neuen Ausdrucksformen, die soziale Realität der Nachkriegsära einzufangen, und schufen ein neues Kino der Wahrhaftigkeit, das Generationen geprägt und bis heute nichts von seiner emotionalen und formalen Kraft verloren hat.

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Mit einer kleinen Anthologie bietet das Stadtkino im November Gelegenheit zu einem Wiedersehen mit Meilensteinen der Filmgeschichte wie Viscontis Ossessione, Rossellinis Roma, città aperta oder De Sicas Ladri di biciclette und lotet für einmal auch die Randbereiche und Weiterentwicklungen der neorealistischen Strömung aus, die auch magische (Miracolo a Milano), humoristische (Anni difficili) oder melodramatische (Riso amaro) Ausformungen kannte.

 

Grosse Kunst entsteht oftmals dann, wenn die Welt aus ihren Fugen gerät. Wenn Kriege wüten und alle Hoffnungen auf eine bessere Zeit unterzugehen drohen. Wenn die Politik versagt und selbst die klügsten Denker keine Lösungen mehr parat haben, dann ist es an den Künstlern, Autoren und Auteuren, eine andere Perspektive zu wagen, neue Bilder und eine neue Sprache zu finden, die sich dem Unheil vehement entgegensetzen. 1943 war so ein Jahr, in dem die Welt in Schutt und Asche lag und der italienische Neorealismus als Mittel zum Trotz eine neue Stilrichtung begründete, wie sie nur die brutalste Verwerfung des 20. Jahrhunderts hervorbringen konnte. Längst hatte zu dem Zeitpunkt auch in Italien der Faschismus übergegriffen und doch war die Situation hier eine besondere: Mit den Cinecittà-Studios und der dazugehörigen Akademie, dem Centro Sperimentale di Cinematografia, war in den dreissiger Jahren in Italien ein Filmzentrum entstanden, das neben der Produktion von Propagandafilmen und trivialer Unterhaltungskunst auch «einige intelligente Leute», wie es André Bazin ausdrückte, nicht daran hinderte, wichtige Filme zu realisieren. Und so gelang Luchino Visconti 1943 mit Ossessione schliesslich ein Neuanfang und eine Antwort auf den Zusammenbruch der Zivilisation in Europa im Zuge des Zweiten Weltkriegs, auch wenn das provokante Drama selbst zunächst der faschistischen Zensur zum Opfer fiel und erst Jahre später in die Kinos kam. Die drückende Dreiecksgeschichte, die sich am Rand der Gesellschaft zuträgt und von Armut, Hörigkeit und Gewaltbereitschaft erzählt, wurde zum Ausdruck einer Generation, die sich ihre Wahrheiten aus einem Scherbenhaufen zusammensuchen musste – und das im wahrsten Sinne des Wortes.

 

Visconti war ein Genie, wie es das italienische Kino in jüngster Zeit nur noch wenige hervorgebracht hat. In den Vierzigern jedoch war er lediglich der erste einer Handvoll von Meistern, die sich gemeinsam an einem neuen Regelwerk filmischer Inszenierung versuchten und die darin immer wieder aufs Neue zu Höchstform aufliefen. Dokumentarische Präzision und soziales Engagement, das war das Fundament, aus dem auch Regisseure wie Roberto Rossellini, Vittorio De Sica, Luigi Zampa und Giuseppe De Santis das stolze Gebäude ihrer Kunst errichteten, die absolute Realität war der Gegenstand ihres dringenden, zwingenden Kinos. Die Werke, die sie inszenierten, standen im vehementen Kontrast zu den verlogenen Telefoni-Bianchi-Filmen jener Jahre mit ihren idealisierten Werten und kostspieligen Art-déco-Sets. Dem Kino als Zerstreuungsapparat hielten sie den Spiegel der Wirklichkeit entgegen. Mehr jedoch als blosse Dokumentaristen, ging es den Neorealisten stets um eine auf praktische Umsetzbarkeit ausgerichtete Sozialkritik, die sie in ihren zumeist mit Laiendarstellern besetzten, an Originalschauplätzen und mit natürlichem Licht (nicht zuletzt wegen der während des Krieges zerstörten Studios der Cinecittà) gefilmten Milieustudien zum Ausdruck zu bringen versuchten. Visconti wiederum ging noch einen Schritt weiter. Dem an der französischen Filmklassik eines Jean Renoir im Paris der dreissiger Jahre geschulten Nachkommen norditalienischen Adels griff der Fokus des Neorealismus bereits in seiner Entstehungsphase zu kurz, weshalb er nach Ossessione bald dazu überging, den Wahrheitsanspruch für seine Zwecke zu weiten und über die Grenzen der Realität hinauszuschauen: Hatte er mit La terra trema (1948) noch ein düster-karges Drama über eine sizilianische Fischerfamilie und ihre Revolte gegen die Diktatur der Grosshändler geschaffen, holte er mit Senso (1954) zum ganz grossen Wurf aus. Die grandiose historische Kinotragödie des Neorealismus über eine venezianische Gräfin, die sich 1866 in einen jungen Offizier der österreichischen Besatzungsarmee verliebt und am Ende mehr als nur Rang und Verstand verliert, sollte folglich auch das Verschwinden eines explizit realitätsorientierten Blicks auf die Welt einläuten.

 

Allein diese bewusste Distanz Viscontis zu seinen Kollegen macht deutlich, dass eine scharfe Ab- oder Eingrenzung des Neorealismus als Genre nicht nur unmöglich ist, sondern auch wenig Nutzen bringt. Viel sinnvoller erscheint es, über sein Wesen hinaus ebenso die Randzonen zu beleuchten, zumal sich die Eigenschaften, die den Neorealismus bis heute ausmachen, konkret aus der Zeit ergaben und sowohl Spuren als auch klare Bezüge in anderen Filmen zu finden sind, die in der Hochphase des Neorealismus von 1943 bis etwa Mitte der fünfziger Jahre entstanden. Vittorio De Sicas Sozialmärchen Miracolo a Milano (1951) beispielsweise ist so ein Fall, in dem die Wurzeln des Neorealismus gewissermassen in ihrer Umkehrung hervortreten: Mit seiner Geschichte um den von seiner Mutter aus dem Jenseits behüteten Waisenjungen Totò, der sich im Armenviertel von Mailand zum Engel auf Erden entpuppt, verlässt De Sica die ernst-melancholischen Pfade einer Filmästhetik, die Wert auf die Darstellung des wahren Lebens der Nachkriegsjahre legte. Stattdessen inszeniert der ewige Humanist den Film als gewagte Komposition aus magischem Realismus und utopischer Politparabel, die auf Dauer in ihren grotesken Momenten überzeugender wirkt als in der Schilderung sozialer Wirklichkeit.

 

Miracolo a Milano war die dritte Zusammenarbeit des ehemaligen Schauspielers mit dem Drehbuchautor Cesare Zavattini, der ihm bereits mit seinem Debütfilm zum Welterfolg verholfen hatte: Ladri di biciclette (1948) erzählt am Beispiel des Plakatklebers Antonio eine alltägliche Begebenheit aus der Unterschicht im Rom der frühen Nachkriegsjahre mit ihren vielfachen, gewöhnlichen und ungewöhnlichen Verästelungen. Der Film wurde kurzum zu einem neorealistischen Jahrhundertwerk. Ein Werk, das mehr als nur eine Generation von Filmemachern prägte und selbst in Hollywood Anerkennung fand, wo der Film 1950 mit dem Fremdsprachen-Oscar ausgezeichnet wurde. Dort war De Sica schliesslich auch weiterhin als Schauspieler gefragt, während es anderen Regisseuren wie beispielweise Rossellini mit dem leisen Verschwinden des Neorealismus immer schwerer fiel, Arbeit zu finden und Haltung zu bewahren. Letzterer hatte seinen grossen neorealistischen Wurf drei Jahre zuvor mit Roma, città aperta geliefert. Kaum zwei Monate nach der Befreiung Roms entstanden, zeichnet der Film ein lebendiges und dramatisches Bild vom Leben des Volkes in jenen schwierigen Tagen, in denen die Stadt von den Nazis besetzt war, die alles daran setzten, auch noch den letzten Winkel von den Patrioten zu befreien. Das Erstaunliche: Roma, città aperta war zunächst ein stummer Film – nicht aus Neigung, sondern aus Notwendigkeit, denn nach Kriegsende war das Geld überall knapp. Am Ende mussten die Schauspieler sich selbst synchronisieren. Doch auch den technischen Schwierigkeiten zum Trotz wurde der Film zum Publikumshit. Und nicht nur die Italiener erkannten sich wieder in dem improvisierten Drama, das neben De Sicas Sciuscià (1946) die goldenen Jahre des Neorealismus als Form der ungeschminkten Wirklichkeitserfassung umschreibt. Ganz Europa spiegelte sich darin. Im einfachen, menschlichen Schicksal, in der gelebten Erfahrung, in der alltäglichen Begebenheit, vermochten die Werke De Sicas und Rossellinis das Dasein der Allgemeinheit sichtbar zu machen.

 

Kaum hatte der Neorealismus mit Ladri di biciclette jedoch seinen Triumpf gefeiert, wiesen die Produktionsumstände von Giuseppe De Santis’ Riso amaro (1949) bereits auf Veränderungen hin, die nur noch wenig mit den Idealen der neorealistischen Phase unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu tun hatten. Einerseits regierte seit 1948 mit den Christdemokraten wieder eine konservative Kraft, die zwar offiziell keine Zensur ausübte, aber die Verteilung der Produktionsgelder derart beeinflusste, dass offensichtlich marxistisch geprägte Filme keine Zuschüsse mehr erhielten. Erschwerend hinzu kam, dass der Marshallplan die Wiederaufbauhilfe für Italien an Bedingungen knüpfte, die es dem Land unmöglich machten, eine linksorientierte Partei als Führungskraft zu wählen. Ganz zu schweigen von der Schmach, die viele Italiener empfanden angesichts des Bildes, das aus neorealistischer Perspektive von ihrer Heimat über die Landesgrenzen hinaus verbreitet wurde. Im Gegensatz dazu kam den Zuschauern wie den Kinobetreibern ein Film wie Riso amaro mit seinem Spagat aus Freikörperkultur und Einblicken in die Lebenswelt der Arbeiterinnen in der Po-Ebene gerade recht. Der Film entpuppte sich als Publikumsmagnet, der darüber hinaus die Wiederkehr eines unterhaltungsorientierten kulturellen Diskurses einleitete, mit dem die Periode des Neorealismus in seiner wahrhaftigsten Form endete.

 

«Laien zu verwenden ist keineswegs eine unerlässliche Bedingung des Neorealismus», hat Visconti einmal gesagt. «Gewiss, es ist möglich, ‹wirkliche› Leute von der Strasse zu holen, die genau den Filmfiguren entsprechen, aber dann besteht die Arbeit darin, sie zu Schauspielern zu machen.» Das und vieles mehr ist den Neorealisten in ihrem neuen wahren Kino gelungen, ohne das grosse Geld, die grosse Show, die grosse Bühne. Ihnen genügte der ehrliche Glaube an die Sprache des Films als Mittel der Erziehung und des gesellschaftlichen Fortschritts. Das Phänomen ihrer Kunst ist zeitlos wie der Kern der Geschichten, die sie erzählen. Und vielleicht ist ein Kino, das sein Augenmerk auf die soziale Ungerechtigkeit in der Welt legt, heute dringender denn je. Die Realität, die die Regisseure des Neorealismus zu zeigen und deuten versucht haben, ist nicht eine des Films, sondern die des Lebens. Und genau das macht grosse Kunst am Ende aus – gestern, heute und morgen.

 

Pamela Jahn

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