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ARCHIV | Filmreihe

 
Reihenbild

Das Kino der Lucrecia Martel

Luzid und betörend


Es ist ein so schmales wie beeindruckendes Œuvre, das Lucrecia Martel den Ruf als scharfsinnige Stilistin einbrachte. Einem Donnerschlag gleich katapultierte ihr Debüt La ciénaga sie 2001 auf die Bühne des Weltkinos und gilt als Klassiker des Neuen Argentinischen Kinos. Ohne plakativen Plot, impressionistisch, aber ungemein präzise fing sie darin den maroden Zustand der argentinischen Gesellschaft ein. Mit La niña santa (2004) und La mujer sin cabeza (2008) folgten zwei weitere poetische Studien, in denen sie die Seelenlage der weissen Oberschicht erkundete – stets mit Blick auf Wehmut und verborgene Sehnsüchte ihrer Erlösung suchenden Figuren, ihren latenten Rassismus und eine historische Schuld hinter ihrer Dekadenz.

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Mit ungewöhnlichen Kadrierungen, opulenten Bildkompositionen und hypnotischem Tondesign entwickelte sie eine eigenwillige filmische Handschrift, die ihre Werke zu verstörend sinnlichen Erfahrungen geraten lässt. 2017 meldete sich Lucrecia Martel mit ihrer lang erwarteten vierten Arbeit zurück. Für das historische Epos Zama verliess sie zum ersten Mal die argentinische Gegenwart, um sich der kolonialen Vergangenheit des Landes zuzuwenden – und wurde dafür am diesjährigen Bildrausch – Filmfest Basel mit dem «Ring der Filmkunst» ausgezeichnet. Mit einer umfassenden Werkschau, ergänzt um eine Set-Dokumentation zu ihrem aktuellen Film, lädt das Stadtkino Basel ein, die schillernde Bildmagierin zu entdecken.

 

Der spanische Kolonialbeamte Don Diego de Zama ist ein «mittelmässiger Mann». So sieht es jedenfalls der Schauspieler Daniel Giménez Cacho, der diese Rolle eines einsamen Corregidor aus dem späten 18. Jahrhundert im neusten Werk Zama von Lucrecia Martel spielt. Doch die argentinische Regisseurin widerspricht ihm: Zama war ein Mann, der den Unterschied ausgemacht hat. Er war dafür verantwortlich, dass «ein historischer Prozess zu Ende ging», dass das «Stehlen von den armen Leuten» aufgehört hat. «Er hat das getan, was er tun musste» – eine Formulierung, die Anklänge an das Ethos des Westerns erkennen lässt. «A man’s gotta do what a man's gotta do.»
Die kleine Szene aus dem scharfsinnigen Dokumentarfilm Años luz von Manuel Abramovich, der Lucrecia Martel bei den Dreharbeiten zu Zama begleiten durfte, ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. Sie deutet an, wie subtil und präzis Lucrecia Martel arbeitet und wie sie Zeichen von Befreiung und Emanzipation aus einer kolonialen Ordnung andeutungsweise in ihren Film einfliessen lässt. Auch wenn man ihrer Interpretation der Figur des Zama folgen will, wird man sie in ihrem Film Zama nicht offensichtlich wiedererkennen. Sie hat einen Roman von Antonio di Benedetto aus dem Jahr 1956 adaptiert, zum Teil sehr getreu der Vorlage, in Details aber auch mit eigenwilligen Akzenten, wenn sie beispielsweise die Figur des «sozialen Banditen» Vicuna Porto aufwertet. Zama ist ein Kostümfilm über einen modernen Text. Die historischen Akzente einer sich bereits abzeichnenden nationalen Unabhängigkeitsbewegung in Lateinamerika bekommt man dabei nur am Rande mit: denn Don Diego de Zama bleibt dem grossen Geschehen fern, sein Kontakt zum spanischen König ist illusionär, stattdessen verschlägt es ihn immer tiefer in die Wildnis am Oberlauf des Rio Paraguay, im Innersten des Kontinents, den wir Lateinamerika nennen.

 

In dem Schriftsteller Antonio di Benedetto hat sie einen Wahlverwandten gefunden. Beide sind stark mit der argentinischen Provinz assoziiert. Di Benedetto mied Buenos Aires und blieb zeitlebens seiner Heimatstadt Mendoza verbunden. Lucrecia Martel, 1966 geboren, stammt aus der nordwestlichen Stadt Salta und ihre drei Filme vor Zama wurden alle in der Region gedreht, sodass man inzwischen von einer Salta-Trilogie spricht: La cienaga (Der Morast, 2001), La niña santa (Das heilige Mädchen, 2004), La mujer sin cabeza (Die Frau ohne Kopf, 2008). Der Blick auf die Jahreszahlen verrät, dass Martel nach dem gescheiterten Science-Fiction-Projekt El eternauto lange an Zama gearbeitet hat.

 

Die Mitglieder ihres Teams rufen sie Lucre oder einfach Lu, wenn man sie aber bei ihrem vollen Vornamen nennt, bekommt man eine Assoziation geschenkt, die durchaus weiterhilft: Bei Lucrecia kommt einem der lateinische Denker Titus Lucretius Carus in den Sinn. Das berühmteste Werk von Lukrez, wie er auf Deutsch genannt wird, trägt den Titel «De rerum natura» (Über die Natur der Dinge). Das ist eine wunderbar zweideutige Formulierung, mit der man den Filmen von Lucrecia Martel gut näherkommen kann. Mit der Natur der Dinge ist einerseits etwas Biologisches gemeint, andererseits aber das, was im abendländischen Denken als Wesen bezeichnet wird, also die Substanz. Menschen sind Naturwesen, sie sind in ihrer Substanz aber auch mehr als das. Diesem Geheimnis spürt Lucrecia Martel nach.
In der berühmten Anfangsszene von La cienaga sieht man Menschen an einem Swimming Pool. Sie schwitzen, sie trinken, sie reden belangloses Zeug. Rundherum wuchert der Dschungel. Die Kinder erforschen die Natur, sie hängen aber auch in halb verdunkelten Räumen ab, die Körper, die sozialen Schichten und die Lebensräume vermischen sich im Sinn einer positiven Verunreinigung. Die bestimmende Klasse Argentiniens schwitzt ihre Privilegien aus und dankt hier sinnbildlich ab, man könnte von Dekadenz sprechen: Ein Stück Zivilisation fällt an die Natur zurück. Schon damals fiel auf, dass Lucrecia Martel vielschichtige Einstellungen von enormer Erzählkraft inszeniert, in denen vieles gleichzeitig passiert. Häufig sind so viele Leute im Bild, dass man das Gefühl bekommen kann, man wäre beinahe selbst mittendrin. Die Kompositionen gleichen oft dem Aufbau von Gemälden, und was für die visuelle Ebene gilt, gilt gleichermassen für den Ton: Martel ist bekannt für nuancierte Soundscapes, in denen die Übergänge zwischen «natürlichem Umgebungston» und Score gleitend sind. (In Años luz gibt es eine grossartige Szene, in der Tonvorräte für den Schnitt aufgenommen werden, und wir sehen dabei die höchst konzentrierte Regisseurin die ganze Zeit einfach nur beim Hören.) Mit La cienaga hatte sie auch das Thema ihrer ersten drei Filme gefunden: die Mittelschicht von Salta, und zwar eben in dieser charakteristischen Spannung zwischen Natur, Kultur und Übernatur. In La niña santa ist es das Phänomen der Religion bzw. des Wunders und der Durchbrechung der natürlichen Ordnung, das Martels Sozialstudie einen spannungsreichen Kontext gibt: sexueller Missbrauch wird von dem «heiligen Mädchen» gleichsam mystisch missverstanden. Die Mystik ist aber in hohem Mass eine kinematografische, denn sie geht mit Voyeurismus und sexueller Neugier einher, also mit den Phänomenen, die dem Blickmedium Kino zutiefst innewohnen. Dass auf dem Grund der Religion ein Umgang mit Sexualität liegt, ist eine zentrale Erkenntnis der Psychoanalyse. Lucrecia Martel akzentuiert die Lehren Freuds aber, indem sie dem bürgerlichen Milieu mit seinen vielen Formen von Kultur einen «natürlichen» Kontext gibt: indigene Menschen (Bedienstete, Spielkameraden etc.) sind immer präsent und umgeben die «weissen» Protagonisten.
In La mujer sin cabeza gilt Martels Interesse erneut einer Familie im Kontext einer sozial stark geschichteten Gesellschaft. Eine gutsituierte Frau namens Vero fährt auf einer abgelegenen Strasse, als sie eine Art Unfall hat. Hat sie jemand überfahren? Ihre Ungewissheit wird in Martels Erzählung zu einem Zeichen für die Verschiebung von Verantwortung: Dienstboten und Krankenhauspersonal stützen diese privilegierte Frau, wo es nur geht, während sie selbst mögliches Verschulden durch Passivität zu bewältigen ersucht.

 

Lucrecia Martel ist eine Filmemacherin, die zugleich enorm sinnlich und in hohem Mass intellektuell ist. Ihr Werk steht eindeutig im Zeichen einer Aufhebung dieses Gegensatzes. Sie stammt selbst aus der sozialen Schicht, die im Mittelpunkt ihrer Filme steht: das weisse Bürgertum, zu dessen Vorfahren man auch Don Diego de Zama zählen kann. Martel tut aber alles, um dieses Bürgertum im spezifischen Kosmos zwischen Natur und Kultur einzubetten, aus dem es hervorgegangen ist – oder den es gewaltsam erobert hat. Spuren der kolonialen Geschichte Lateinamerikas sind überall diskret gegenwärtig. Mit ein bisschen poetischer Freiheit kann man sogar die Zigarre, mit der Martel sich oft zeigt, als ein Zeichen der Aneignung sehen: der Stumpen, bei dem man an Revolutionäre wie Castro (oder auch Freud!) denken kann, gehört nun einer Frau, die dem Weltkino auf ganz neue Weise das Hören und Sehen (und übrigens auch das Lesen!) beibringt.

 

Bert Rebhandl

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