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ARCHIV | Filmreihe

 
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Neues Kino aus Griechenland

Von der freien Wildbahn


Mit Dogtooth von Yorgos Lanthimos und Attenberg von Athina Rachel Tsangari brach sich zeitgleich zum Ausbruch der Schuldenkrise ein junges, radikales, freies und kompromissloses griechisches Kino Bahn, das seither mit einfallsreichen, unkonventionellen und bisweilen verstörenden Bildern der wirtschaftlichen Misere des Landes trotzt und regelmässig auf internationalen Festivals für Furore sorgt. Die griechische Realität fest im Blick, übersteigert eine neue Generation junger Filmschaffender ihre aus den Fugen geratene Welt mit überraschenden Parabeln und Metaphern ins Groteske und macht als griechisches Filmwunder von sich reden. Minimalen Budgets setzt sie ein immenses künstlerisches Kapital in Form verblüffender ästhetischer Ansätze entgegen und bietet der nicht existenten staatlichen Förderung durch solidarische Zusammenarbeit die Stirn. Im Rahmen des multidisziplinären Kulturfestivals CULTURESCAPES, das sich dieses Jahr Griechenland widmet, bereitet das Stadtkino Basel dem wilden hellenischen Filmschaffen die Leinwand - und freut sich die Regisseurin Penny Panayotopoulou sowie die SchauspielerInnen Vangelis Mourikis, Hristos Passalis und Aggeliki Papoulia zu diversen Filmgesprächen zu Gast zu haben.

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Zur ersten Dekadenwende der 2000er-Jahre hin nahm eine Filmkultur die Kinowelt im Sturm, welche filmhistorisch, als Ganzes, bislang nie grösser wahrgenommen wurde: Griechenland. Zwei Filme waren's, die für ein allseitiges Staunen sorgten: Dogtooth (2009) von Yorgos Lanthimos und Attenberg (2010) von Athina Rachel Tsangari - beides Werke, die durch ihre so bislang noch nie gesehene Mischung aus Surrealismus und gestalterischer Strenge bestachen. Bald tauchte im englischen Sprachraum die Bezeichnung Greek Weird Wave auf für Lanthimos, Tsangari und ihre Epigonen wie Imitatoren. Belustigend ist dabei, dass diese kuriose Bezeichnung sowohl aus griechischer wie auswärtiger Perspektive passt - nur dass beide Seiten völlig andere Aspekte der Filme als sonderbar-schräg-spinnert ansehen! Was Briten, Italiener, Franzosen etc. an Werken wie Lanthimos' Alps (2011) oder Tsangaris Chevalier (2015) verschroben fanden - die zum Teil groteske Körpersprache, die quasi Buñuel'schen Ausgangssituationen, die Schärfe in der Sprache -, ist für Griechen alles ziemlich normal, ja regelrecht fundamental für ihr Filmschaffen vor allem der künstlerisch avanciert-wagemutigeren Art. Was Griechen hingegen oft ulkig bis befremdend vorkommt, ist die quasiformalistische Inszenierung, mit der Lanthimos et al. das potenziell Ausufernde, entschieden Groteske, Übersteigert-Symbolhafte, fast Melodramatische in ihren Stoffen einzäunen. Dogtooth spiegelt das fast symbolisch: Hier hat sich ein Elternpaar hinter einer Mauer in seinem herrlichen Haus mit Garten verschanzt, um ihre Kinder «alternativ» zu erziehen - alles, was sie umgibt, alles, was sie tun, wird anders benannt, als es der Konsens gebietet. Ironisch ist bei alldem denn auch, dass Lanthimos Griechenland hinter sich lassen musste, um der zweiten Hauptbedeutungsebene des Wortes «weird» in seinem Kino den nötigen Raum zu verschaffen: Unheimlich werden seine Filme erst in Grossbritannien, wo er mit The Lobster (2015) eine bizarre Mixtur aus dystopischer Science-Fiction-Parabel und Aesop'scher Tierfabel realisierte, und dann den USA, dessen gruselig gesichtsloser Mittlerer Westen in The Killing of a Sacred Deer (2017) die perfekte Kulisse abgibt für einen biblisch-abgründigen Horrorfilm über einen Verfluchten, der die Schicksalswaage auf Tara stellen muss durch den Mord an einem Familienmitglied seiner Wahl.
Tsangari und Lanthimos haben nie einen Hehl daraus gemacht, wie viel ihr Kino einheimischen Vorbildern verdankt; um exakt zu sein: dem Schaffen des grössten aller griechischen Regieexzentriker, Nikos Nikolaidis, sowie dem Frühwerk von Nikos Panayotopoulos; andere Namen liessen sich nennen, doch es würde an einem nichts ändern: der Verwurzelung in einer sehr lokalen Idee von Surrealismus. Aber beide haben auch gesagt, wie entscheidend für sie das Spielfilmdebut von Yannis Economides, The Matchbox (2002) war, die Geschichte eines sukzessive ob Familie und Beruf ausrastenden Durchschnittsmittelstandsgriechen. Obwohl Economides es mit dem Film gleich nach Cannes schaffte, wurde sein Schaffen international nie so ins Herz geschlossen wie das von Tsangari oder Lanthimos. Daheim hingegen entwickelte er sich zum populärsten Kunstkino-Regisseur des Landes: Er ist der Auteur, mit dessen Sicht wie Darstellung der Welt sich die Griechen identifizieren können; auch weil er zum Chronist des sozialen Kollaps wurde - einer Wirtschaftskrise, die quasi über Nacht die Mittelschicht um sämtliche Sicherheiten brachte; von der Wohnung bis zur Rente. Diese Mittelschicht, zeigt Economides in Stratos (2014), ist nun zu allem bereit - auch zu einer Existenz als Bäcker plus Auftragsmörder im Zweitberuf. Wenn das Geld fürs Essen nicht mehr reicht, findet jeder seinen inneren Kleinkriminellen. Der einzige andere, wenn auch etwas ältere Filmemacher Griechenlands, der mit Filmen wie dem düsteren Rehabilitationsdrama The King (2002) auf ähnlich unmittelbare Weise, wenn auch in eher populär-genrekompatibler Gestalt von diesem Wertezusammenbruch seit den 1990ern zu erzählen versteht, ist Nikos Grammatikos. Auch darin hätte man eine Welle sehen können: die Greek Noir Wave ...
Mit anderen Worten: Die Weird Wave ist das Produkt eines Selbstfindungsprozesses innerhalb des griechischen Kinos, der schon sehr viel länger im Gange war. Der hellenische Kino-Um- und -Aufbruch hätte völlig andere Formen annehmen können bzw. hat es auch, nur dass man das jenseits der Landesgrenzen nicht wahrnahm; das Beispiel von Grammatikos und Economides ist nur eines von vielen.
Ein anderes wäre in dem Schaffen von Regisseuren wie Panos Koutras oder Constantinos Giannaris zu finden - die Greek Gay Wave! Hier böte sich als Initialzündung Panos Koutras' Langfilmdebut The Attack of the Giant Moussaka an, ein Camp-getriebenes, so schwules wie fabelhaft subversives Fantasy-Trash-Melodram, dem John Waters so lieb ist wie Rainer Werner Fassbinder teuer. Giannaris, etwas älter als die anderen Filmemacher, käme dabei die Rolle als Übervater/Mentor zu. Während ein Werk wie Vardis Marinakis' prächtig-überbordendes, von Schroeter'schen Stilisierungen wie einer fast bollywoodenen Üppigkeit der Farben und Dekors bebendes Historienstück Black Field (2009) als Beispiel dafür steht, wie in einer perfekten Welt der Arthouse-Mittelbau auch aussehen könnte. Giannaris, Ikonoklast wie Eklektiker, ist realiter vielleicht DIE Schlüsselfigur für den griechischen Film der Gegenwart. Charakteristisch für ihn, der lange in Grossbritannien lebte und in den 1980ern dort eine der Vorzeigegestalten des schwulen Underground- und Avantgardekinos war, ist eine tiefe Faszination für Griechenlands aktuelle wie historische geopolitische Position: Welche Kulturen in den Jahrtausenden zuvor ihre Spuren in dem Land hinterliessen und welche man dieser Tage daran hindern will. Entsprechend geht es bei Giannaris, so auch in dem Geiselnahmethriller Hostage (2005), immer wieder um Fremde, die versuchen, in Griechenland eine Heimat zu finden. Wobei Fremd-Sein alles Mögliche bedeuten kann - Ausländer, schwul oder schlicht jung -, eben alles, was den Hass einer im eigenen Miserensaft schmorenden Mittelschicht auf sich ziehen kann.
Eine gemeinsame Haltung in diesem Gewusel von Ästhetiken und Haltungen, von Versuchen, sich der Gegenwart wie Vergangenheit zu nähern, verweigert das griechische Kino dieser Jahre. Die Zeit ist vorbei, da man zumindest davon träumen konnte, Griechenland als etwas Einheitliches, Ganzes zu erzählen; dies waren die Dekaden gleich nach der Militärdiktatur, da man gemeinsam sich fortbewegte von einer Vergangenheit der Unterdrückung und des Leides. Nun ist die Zeit nach den Hoffnungen und Illusionen jener Ära, nach den Plansequenzen eines Theodoros Angelopoulos und alldem, was sie symbolisieren.

 

Olaf Möller

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