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ARCHIV | Filmreihe

 
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Im Bann des Kinos von Chantal Akerman


Eine «Widerstandskämpferin gegen das Kino der Gefälligkeiten» nannte sie Jean-Luc Godard einmal. Seit ihrem Debüt 1968 unterlief die belgische Filmregisseurin und Videokünstlerin Chantal Akerman Konventionen wie Sehgewohnheiten, experimentierte mit dem visuellen Erzählen und hinterliess tiefe Spuren in der Geschichte des modernen Kinos. Ihr frühes Meisterwerk Jeanne Dielman prägte eine ganze Generation von Filmschaffenden. In mehr als 40 Arbeiten eroberte sie sich scheinbar alle Spielarten des Films - vom Experimental- und Dokumentarfilm über Melodram und Musical bis zur Literaturverfilmung. Minimalistisch, radikal, experimentierfreudig, facettenreich und oft autobiografisch grundiert, behandelte die Tochter von Holocaust-Überlebenden Themen der Erinnerung, Isolation, Identität und Immigration. Im vergangenen Herbst setzte sie ihrem Leben viel zu früh ein Ende. Das Stadtkino Basel gedenkt der grossen Avantgardistin mit einer Hommage und präsentiert einen Querschnitt ihres Schaffens. Vertieften Einblick in Akermans künstlerische Verfahren gewährt dabei vom 20. bis 22. Oktober ein internationales Symposium, veranstaltet vom Seminar für Medienwissenschaft und dem Kunsthistorischen Institut der Universität Basel sowie dem NFS Bildkritik eikones.

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Brüssel, 6. Juni 1950 / Paris, 5. Oktober 2015. Zwischen diesen Eckdaten erstreckt sich das 65-jährige Leben der Filmkünstlerin Chantal Anne Akerman, die diesem selbst ein Ende setzte. Ihr filmisches Oeuvre zeugt von einer Sehnsucht nach dem Alltag. Denn Alltag ist nicht selbstverständlich - dies machen ihre Filme deutlich. Gleichförmige Abläufe, Muster, erkennbare Rhythmen, lange Weilen, Wiederholung und Routinen bestimmen deren Struktur und Inhalt. Und ihre Filme handeln von der Störung dieser Rhythmen, sie agieren diese Störung aus. Subtil wird ein Gleichmass ins Wanken, ein Rhythmus ins Stocken gebracht, eine Monotonie entgleist allmählich oder eine Ordnung explodiert, ganz plötzlich. Offen bleibt die Frage nach dem Grund. Wiederkehrende Strukturen und lange Weilen zeigen sich in Akermans Filmen als jeweils persönliche Formen des Widerstands - je nach Kontext gegen ein Erinnern, gegen ein Vergessen, gegen einen Abgrund, einen Sturz in eine Tiefe, gegen eine autoritäre Macht und gegen Ohnmacht. Filmische Form und existenzielle Fragen, Ästhetik und erzählerischer oder dokumentarischer Inhalt verschmelzen auf verblüffende Weise.
Chantal Akerman hat jüdische Wurzeln. Ihre Mutter Natalia ist mit ihrer Mutter und ihrem Vater während des Zweiten Weltkriegs von Polen nach Brüssel geflohen und von da nach Ausschwitz deportiert worden. Im Gegensatz zu den Grosseltern hat die Mutter das Lager überlebt. Sie ist die unsichtbare Heldin in Akermans Filmen. Über ihre Geschichte spricht die Mutter nicht. Auch nicht, wenn sie die Tochter in ihrem letzten und intimsten Film No Home Movie (2015) mit ihrer kleinen Kamera erstmals direkt konfrontiert.
Die geografischen Stationen von Akermans Leben entsprechen den Drehorten und Schauplätzen ihrer Filme. Am Ende ihres ersten Films, des Kurzfilms Saute ma ville (1968), sprengt sie ihren Geburtsort samt sich selber in die Luft, nachdem sie - noch unter dem Schock von Godards Pierrot le fou - als eine Art Chaplin in ihrer Küche mit Esswaren und Küchenutensilien auf exzessive Weise Unfug getrieben und in der Raserei den Gasherd gezündet hat. Die Explosion oder auch der Ausbruch aus der Enge wird durch einen Brief verursacht, der Feuer fängt. Der Brief wird Leitmotiv in ihrem Schaffen, er ist auch Trick: Er bringt einen Anderen oder eine Andere von Anderswo ins Hier und Jetzt hinein und schafft im begrenzten Raum und im kadrierten Film-Bild eine Öffnung, eine Lücke, ein geheimes Schlupfloch in die Weite.
Nach Saute ma ville verlässt Akerman Brüssel für Paris, studiert kurz an der Haute Ecole des Arts du Spectacle und besucht jede Woche die Veranstaltungen des Philosophen Emmanuel Levinas (1906-1995), der an der Ecole Normale Israélite Orientale lehrte. Aufgrund seiner Erfahrung des Holocaust gibt er das Verhältnis des Menschen zum Anderen auf neue Weise zu bedenken. An die Stelle von abstrakten, übergreifenden ethischen Normen stellt er die direkte Begegnung mit dem Anderen. Denn - so Levinas - im Antlitz des Anderen spricht uns seine Schutzlosigkeit an und ruft uns zur Verantwortung. Diese Ethik spricht aus der Ästhetik von Akermans Filmen. Eine zurückhaltende, doch präsente Kamera zeigt die Figuren ihrer Filme oft in frontaler Ansicht, als Gegenüber, manchmal in leichter Untersicht und gibt ihnen - damit sie sich entfalten und auch mit der Kamera interagieren können - Raum beziehungsweise Zeit, viel Zeit.
Im Alter von zweiundzwanzig Jahren geht Chantal Akerman nach New York, von da an pendelt sie zwischen den Städten. Sie ist Grenzgängerin in vielerlei Hinsichten. Auch ihre Arbeit bewegt sich im Dazwischen - zwischen Dokumentation und Fiktion, zwischen Drama und Komödie (Demain on déménage, 2004), zwischen Literaturverfilmung (La Folie Almayer, 2011) und Musical (Golden Eighties, 1986) und seit ihrer filmischen Installation D'est. Au Bord de la Fiction (1995) auch zwischen Kino und Ausstellungsraum. Besonders prägnant kommt das Thema des Grenzgangs in ihrem dokumentarischen Essayfilm und der Installation De l'autre côté (2002) zum Ausdruck. Der Film fasst die lebensgefährliche Grenzpassage Mexiko-USA nicht als Aktion ins Auge, sondern untersucht den Zustand der Landschaft, der Grenzbewohner und der Hinterbliebenen.
Im Anthology Film Archive lernt die junge Akerman zu Beginn der 70er-Jahre das experimentelle Schaffen der New Yorker Avantgardefilmszene kennen - die Tagebuchfilme von Jonas Mekas beispielsweise, das stark auf den Körper und seine Bewegungen bezogene Filmschaffen von Yvonne Rainer und den strukturalistischen, programmatischen Film. Insbesondere dank Michael Snows Filmen, die ein formales Prinzip mit Rest-Elementen der Realität verklammern und den Zuschauer trotz ihres abstrakten Charakters in einen aufgeladenen Zustand des Suspense versetzen, wird Chantal Akerman bestärkt in ihrem Vertrauen in die darstellenden Mittel, die emotionale Kraft des stummen Bildes und in die vielfältigen Möglichkeiten des Tons, jenseits einer erklärenden Funktion. Anders als die Protagonisten und Protagonistinnen des New Yorker Avantgardefilms wird Akerman die strenge filmische Form, die Perfektion von Komposition und Rhythmus mit erzählerischen und dokumentarischen Absichten verbinden. Vor diesem Hintergrund wirken ihre beiden Filme La Chambre (1972) und Hôtel Monterey (1972) wie künstlerisch perfektionierte Location Scoutings oder formvollendete Studien im filmischen Vermessen von Zimmern und Häusern, in denen je nach Lichtstimmung diese reale oder jene fiktive Geschichte ihren Lauf nehmen könnte.
In Je tu il elle (1975), Akermans frühestem Spielfilm, geht es um zwischenmenschliche Begegnungen, um Einsamkeit und die Frage des Begehrens. In drei Episoden wird die Identitätssuche einer jungen Frau skizziert, gespielt von Akerman selbst. Sie schreibt in einem leeren Raum an Briefen, verschiebt ihre Matratze und löffelt Zucker aus der Packung. Aufgrund ihres absurden Charakters entleeren sich die Handlungen von ihrer Bedeutung und bringen sowohl die Zweifel und Verzweiflung der Frau wie auch die kinospezifische Frage nach der Konstruktion von Erzählung zum Ausdruck. Wie als Vorlage zu Cindy Shermans «Untitled Film Still #48» (1979) stellt «je» sich schliesslich an die Strasse und lässt sich per Anhalter von einem Lastwagenchauffeur mitnehmen. Auf das Kammerspiel (je-tu) folgt ein Stück Roadmovie (je-il) und endet vorübergehend in der Wohnung einer Freundin (je-elle) - im Bett.
Ein Zuhause findet sich in Akermans monumentalem Meisterwerk Jeanne Dielman, 23, Quai Du Commerce, 1080 Bruxelles (1975). Hier wohnt Jeanne Dielman, gespielt von Delphine Seyrig. Sie ist Mutter eines jugendlichen Sohnes und von Beruf Hausfrau. Weil sie verwitwet ist und für ihren Beruf kein Geld erhält, empfängt sie in ihrer Wohnung jeden frühen Abend einen Freier. Während des Beischlafs kochen die Kartoffeln für das Abendessen. Den Erwerb legt Jeanne in die grosse, weisse Suppenschüssel auf dem Esstisch in der Stube. Wo die Kamera auch hinschaut, bilden sich in der von Frau Dielman sorgsam unterhaltenen Wohnung Tableaus, Genremalereien in Bewegung. Der Film besteht aus lauter festen Einstellungen, in deren Rahmen sich Frau Dielman äusserst bildbewusst bewegt. Durch die Art und Weise, wie sie ihren Haushalt führt, bestimmt sie über die filmische Form. Durch die Langsamkeit der Erzählung vergrössern sich die kleinen Gesten: die bestimmte Art, wie sie mit ihrer Hand das Deckbett glättet, oder die Flinkheit, mit der sie die Bluse zuknöpft. Todd Haynes und Gus von Sant erinnern sich in einem Gespräch an die Wucht, mit der dieser Film - «ein Erlebnis, das nie endet» - Mitte der Siebzigerjahre eingeschlagen hat und wie diese Gesten die eigenen Kindheitserinnerungen an ihre Mütter wachriefen.
Die spezifische Spannung von Akermans Filmen ist eine Form der Oberflächenspannung. «Motion is emotion», meinte Douglas Sirk. Auf Akermans Kino trifft diese Gleichung zu. Auch wenn wir nahezu keine Informationen über die Geschichten und die psychologische Tiefe ihrer Figuren erhalten, ist in der Latenz die Tiefe auszumachen. Die Geschichten von Akermans Figuren sind verkörpert, verinnerlicht. Geschichte steckt als Erfahrung in den Menschen. Akermans Filme sehen die Symptome dieser Erfahrungen auf den Oberflächen der Welt - auf den Gesichtern, den Körpern, aber auch in den Landschaften, den Strassen der Städte und den Fassaden der Häuser. Und zugleich führen uns diese Filme die Kraft vor Augen, mit welcher die Menschen gegen diese Erfahrungen Widerstand leisten.

 

Eva Kuhn

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